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Martin blieb stehen, öffnete das Hemd und suchte nach der Schnur, an der der Hausschlüssel befestigt war: morgens, wenn er ihn umgehängt bekam, war der Schlüssel kühl, lag unten in der Nähe des Nabels, scheuerte leicht, begann dann, sich zu erwärmen, und wenn er warm war, spürte er ihn nicht mehr. Schon hatte er im Dämmerlicht den weißen Zettel erkannt, der an die Tür geheftet war, aber er zögerte noch, den Knopf des Lichtautomaten zu drücken und zu erfahren, welche Mitteilung derZettel enthielt. Er beugte den Oberkörper und brachte den Schlüssel an der Schnur so heftig zum Pendeln, daß er links am Ohr vorbei um den Kopf herum auf die rechte Wange schlug: Dort ließ er ihn einen Augenblick liegen und beförderte ihn mit einem Ruck wieder nach vorne. Mit der linken Hand tastete er nach dem Knopf des Lichtautomaten, mit der rechten nach dem Schlüsselloch und lauschte angestrengt nach drinnen: Er glaubte zu spüren, daß niemand da war. Der Zettel enthielt sicher die Mitteilung, daß auch Albert hatte wegfahren müssen. Wenn er »niemand« dachte, schloß er die Großmutter aus, die bestimmt da war. Sie war immer da. Zu denken »niemand ist da«, hieß zu denken »die Großmutter ist da, sonst niemand«. Das »sonst« war entscheidend, ein Wort, das der Lehrer haßte, der auch »eigentlich« haßte, »überhaupt« und
»sowieso«, Wörter, die wichtiger waren, als die Erwachsenen wahrhaben
wollten. Er hörte die Großmutter sogar, sie ging murmelnd in ihrem Zimmer auf und ab, und die Schritte ihres schweren Körpers brachten die Gläser in der Vitrine zum Klirren. Indem er die Großmutter hörte, sah er sie auch, sie
und die riesige, schwarzgebeizte altmodische Vitrine, die alt war, was
was alt war, war auch kostbar, alte Kirchen, alte Vasen. Durch ein paar lose Bretter, die unter dem Parkettboden lagen, wurde die Vitrine, wenn die Großmutter auf und ab ging, in ständiger leiser Bewegung gehalten, und die Gläser klirrten mit einer sanften Stetigkeit. Die Großmutter durfte keinesfalls hören, wenn er nach Hause kam. Sie würde ihn hereinrufen, würde ihn mit Dingen füttern, die er nicht mochte, mit rosigen Fleischstücken, würde ihm den Katechismus abfragen und die alten feststehenden GäselerȬFragen stellen. Er drückte auf den Lichtknopf, las den Zettel, den Onkel Albert geschrieben hatte: »Ich mußte doch weg.« Das »doch« war dreimal unterstrichen. — »Komme um sieben zurück, warte mit dem Essen auf mich.« Daß Albert das »doch« dreimal unterstrichen hatte, bewies die Wichtigkeit dieser Wörter, die der Lehrer haßte und deren Anwendung verȬ boten war. Er war froh, daß das Licht wieder ausging, denn es war zu befürchten, daß die Großmutter herausstürzen, es sehen, ihn zu sich hereinzerren, ihn examinieren, füttern würde; rosiges Fleisch, Süßigkeiten, Zärtlichkeiten, das Katechismusspiel, das GäselerȬFragespiel. Ȭ Das mindeste aber, was sie tun würde: in die Diele stürzen und brüllen: »Ich habe wieder Blut im Urin.« Dabei schwenkte sie dann ihr gläsernes Nachtgeschirr, weinte dicke Tränen. Er ekelte sich vor ihrem Urin, hatte Angst vor der Großmutter und war froh, als das Licht wieder ausging. Draußen waren die Gaslaternen schon angezündet: gelblichgrün schimmerte es durch die dicke Verglasung des Vorbaus über seinen Rücken herauf zur Wand hin und warf seinen Schatten Ȭ einen schmalen, grauen Schatten — gegen die dunkle Tür. Der Finger ruhte immer noch auf dem Lichtschalter, und gegen seinen Willen drückte er darauf, und da war es, was er immer mit Spannung erwartete: Sein Schatten sprang aus dem Licht heraus wie ein dunkles, sehr schnelles Tier, schwarz und streng, sprang über das Treppengeländer, und der Schatten seines Kopfes fiel auf die Füllung der Kellertür, und er setzte den Schlüssel an der Schnur wieder in Bewegung und sah den grauen, schmalen Schatten der Schnur sich bewegen: Leise tickte es im LichtautoȬ maten, das Licht ging aus, und er ließ zweimal, dreimal Ȭ weil es so schön war
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das schmale, schwarze, so schnelle Tier, seinen Schatten, aus dem hellgrünen Licht hinter sich herausspringen, ließ seinen Kopf immer auf
oben Boldas Schritte hörte: Sie schlurfte durch die Diele, im Badezimmer
rauschte Wasser, ihm fiel ein, daß jetzt die Zeit war, da Bolda herunterkommen und sich in der Küche Bouillon kochen würde.
Wichtig war nur, so leise ins Haus zu kommen, daß die Großmutter ihn nicht hörte, und er führte vorsichtig den Hausschlüssel ein, drehte ihn ebenso vorsichtig, nahm dann auch die Linke hinzu, um mit einem Ruck die Tür zu öffnen, machte einen großen Schritt, um die knarrende Stelle im Parkettboden zu meiden, und stand endlich auf dem dicken, rostfarbenen Läufer, sich vorbeugend, um die Tür ganz vorsichtig wieder ins Schloß zu drücken.
Er hielt den Atem an und lauschte gespannt auf die Geräusche aus dem Zimmer der Großmutter: Sie hatte nichts gehört, ging immer noch auf und ab, immer noch klirrten die Gläser in der Vitrine, und ihr Murmeln klang wie der wilde Monolog einer Gefangenen. Noch war die Stunde des Blut im Urin nicht gekommen, schreckliche, periodisch wiederkehrende Gewohnheit, wo sie das gelbe Zeug triumphierend durch die Diele trug, von Zimmer zu Zimmer, rücksichtslos es vertropfend, so wie sie rücksichtslos dicke Tränen vertropfte, und Mutter sagte dann: »Ist ja nicht so schlimm, Mutter, ich rufe Hurweber an.« Und Onkel Albert sagte: »Ist ja nicht so schlimm, Oma, wir rufen Hurweber an.« Und Bolda sagte: »Ist ja nicht so schlimm, liebe Betty, ruf doch den Arzt an und stell dich nicht so an.« Und Glum, der morgens, wenn er aus der Kirche oder von der Arbeit kam, mit geschwenktem Uringlas empfangen wurde, Glum sagte: »Ist ja nicht so schlimm, gute Oma, der Doktor wird kommen.«
Und er selbst, er war verpflichtet zu sagen: »Ist ja nicht so schlimm, liebe Großmutter, wir lassen den Arzt kommen.« Alle drei Monate wurde für eine Woche dieses Spiel gespielt, und es war schon lange her, daß es zuletzt aufgeführt worden war, lange genug, daß er ahnte, es sei fällig, an diesem Abend, zu dieser Stunde.
Er hielt noch den Atem an und war glücklich, als die Großmutter ihr Murmeln, ihren Rundgang fortsetzte, als das gläserne Konzert der Vitrine weiterhin ertönte.
Er schlich sich in die Küche, nahm im Dunkeln den Zettel weg, der Ȭ von der
Mutter geschrieben Ȭ immer auf der Tischkante lag
zwischen den bläulichen Mustern der Wachstuchdecke. Er war froh, als er Boldas Schritte hörte. Bolda bedeutete nicht die Gefahr, daß die Großmutter herausstürzen und »Blut im Urin« schreien würde. Bolda und die Großmutter kannten sich schon zu lange, und Bolda allein als Publikum war reizlos für die Großmutter.
Bolda kam in ihren Latschen die Treppe herunter, knipste Licht an in der Diele
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sie war die einzige, die sich nicht vor der Großmutter fürchtete Ȭ, und als sie in die Küche kam, auch dort Licht anknipste und ihn entdeckte, legte er rasch den Finger auf den Mund, um sie zu warnen. So kam nur ein rasches Glucksen aus Boldas Mund, sie trat auf ihn zu, kraulte ihn im Nacken und murmelte, das R rollend, in ihrem breiten Dialekt: »Guter Junge, armer Junge, du hast sicher Hunger.« »Ja«, sagte er leise. »Magst du Bouillon?«
»Ja«, sagte er, und er bewunderte Boldas langes, pechschwarzes, ganz glattes
Haar, betrachtete ihr weißes, zerknittertes Gesicht, hörte das Puffen der Gasflammen und blieb neben Bolda stehen, die drei, vier Bouillonwürfel aus der Dose nahm. »Und ein Brötchen mit Butter, was, ganz frisch?« »O ja«, sagte er.
Sie nahm ihm den Schulranzen ab, zog ihm die Mütze ab und steckte den
Schlüssel wieder hinters Hemd an seine Brust zurück: kühl rutschte er wieder bis in die Nähe des Nabels, ruhte dort, ein wenig scheuernd. Er nahm Mutters Zettel aus der Tasche und las ihn: »Ich mußte wieder weg.« »Mußte« war viermal unterstrichen. Bolda nahm ihm den Zettel aus der Hand, studierte ihn stirnrunzelnd und warf ihn in den Abfalleimer, der unter dem Spülbecken stand.
Langsam verbreitete sich der Geruch der Bouillon, ein Geruch, den Onkel
Albert »ordinär«, den Mutter »scheußlich«, den Großmutter »geradezu gemein« fand, ein Geruch aber, bei dem sich Glums Nase entzückt kräuselte
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und der ihm selbst wohlgefällig war: Er mochte Boldas Bouillon aus einem ganz besonderen Grund, den noch keiner erraten hatte: es war dieselbe Bouillon, nach der es auch bei Brielachs roch: nach Zwiebeln, nach Talg, Lauch und jenem Unbestimmbaren, das Onkel Albert »Kaserne« nannte. Hinten, wo das Heizungsrohr am Gasherd entlanglief, stand
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immer die henkellose, grüne Tasse, in der Bolda ihren Spezialtrunk grün und dick werden, zu einem fast schlammigen Konzentrat zusammendampfen ließ: WermutȬTee, lauwarme Bitternis, die im Mund den Speichel zusammentrieb, im Hals an Bitternis, unendlicher Bitternis zunahm, im Magen dann wohlige Wärme hervorrief. Nachher blieb unendliche Bitternis im Mund, die sich tropfenweise in die Speisen mischte, die man später aß: Brot, mit Wermut durchknetet, Suppe, von Wermut gewürzt, und immer noch Ȭ wenn man längst im Bett lag Ȭ wohltuende Bitternis, die aus geheimen Ecken des Mundes, aus verborgenen Reserven zum Gaumen strömte und sich auf der Zunge mit Speichel mischte.
»Jede Woche einen Schluck WermutȬTee« war Boldas Parole, und jeder, dem
übel war, der Magenschmerzen verspürte, durfte sich aus ihrer grünen, henkellosen Tasse bedienen. Sogar die Großmutter, der alles, was Bolda aß und trank, ein Greuel war, sogar Großmutter genoß heimlich Schlucke dieser unendlich konzentrierten Bitternis. Jede Woche nahm Bolda trockene, grünȬ lichgraue Blätter aus einer zerschlissenen braunen Papiertüte und kochte eine neue Tasse voll. »Besser als Kognak«, murmelte sie, »besser als Doktoren, besser als die ganze dumme säuische Zuvielfresserei, Zuvielsauferei, Zuvielraucherei, besser als alles ist WermutȬTee und ein guter Choral.« Sie sang oft, obwohl sie eine schreckliche Stimme hatte: krächzendes Tasten nach Rhythmen und Melodien, die sie zu treffen glaubte, aber nie traf. Ihr Ohr schien so unmusikalisch wie ihre Stimme, denn ihr schrecklicher Gesang kam in ihren eigenen Ohren offenbar als Wohlklang an, und sie quittierte sich selbst jeden Vers, den sie sang, mit einem triumphierenden Grinsen. Sogar Glum, der nur selten die Ruhe verlor, unendliche Geduld gegen alles und alle bewies und eine Woche, ohne zu murren, bei Blut im Urin aushielt, sogar Glum konnte werden, was er sonst nie wurde: »NerȬvözz Ȭ oh, Bolda, du machst mich ganz nervözz... « Nun war aber Boldas Bouillon heiß, die Brötchen waren geschmiert, und die große, gelbe Henkeltasse in der Hand, schlich er leise auf Strümpfen neben Bolda die Treppe hinauf in Boldas Zimmer, vorbei an dem riesigen Ölgemälde, das den Großvater zeigte: einen traurigen , hageren Mann mit auffallend rotem Gesicht, der die Hand mit der brennenden Zigarre auf einen grünen Tisch stützte. Darunter das
Chef zum 25jährigen Geschäftsjubiläum 1938 Ȭ die dankbare Gefolgschaft.«
Immer sah es aus, als würde die weißgraue, wunderbar gemalte lange Asche im nächsten Augenblick auf den spiegelblanken Tisch fallen, und manchmal träumte er davon, sie sei heruntergefallen, er erwachte morgens aus leisem Alpdruck und lief zur Treppe, um nachzusehen: Sie hing noch da. Sie hing immer noch da: viel zu lang, weißgrau, wunderbar richtig gemalt, und die Tatsache, daß sie immer noch da hing, verursachte sowohl Erleichterung wie neuen Alpdruck, denn wäre sie endgültig gefallen, wäre alles gut gewesen. Auch die Uhrkette war zum Greifen deutlich und die feine silbergraue Krawatte mit der hellblauen Perle, und jedesmal sagte Bolda: »Das war ein guter Mensch, Holsteges Karl« — womit sie wohl andeuten wollte, daß die Großmutter kein so guter Mensch sei, wie der Großvater gewesen war. Boldas blauer Rock roch immer nach Seifenlauge, immer auch war er, bis weit über den Saum hinauf, mit Seifenspritzern bedeckt, denn Boldas Hauptbeschäftigung bestand darin, ehrenamtlich verschiedene Kirchen zu
schrubben. Ehrenamtlich Ȭ»nicht für Geld« Ȭ schrubbte sie drei Kirchen: die
Pfarrkirche, wo sie in besonders großen, schaumbedeckten Laugelachen zweimal wöchentlich sich triumphierend vom Eingang bis zur Kommunionbank durchpaddelte, dann ehrfürchtig die Teppiche vor dem Altar aufrollte und in einer kleineren, mit mehr Schaum bedeckten Lache Ȭ weißgekrönt war diese Lache Ȭ um den Altar herumschwebte wie ein dunkler Engel auf einer Wolke. Außerdem reinigte sie die Notkirche draußen im Park und die Kapelle der Nonnen, zu denen auch Onkel Albert oft ging: dunkle Kapelle, wo rechts hinter der Kommunionbank ein großes schwarzlackiertes Gitter Ȭ über das auf der Rückseite ein ganz blauer Vorhang fiel Ȭ die Kirche absperrte, und wo hinter dieser doppelten düsteren Absperrung immer Ȭ immer, immer Ȭ die Nonnen mit angenehmeren Stimmen als Bolda, jene Choräle sangen, die Bolda zu singen glaubte. Vier Putztage hatte Bolda in der Woche, vier Tage lang schwebte sie Ȭ ein hagerer, dunkler Engel mit schneeweißem, völlig zerknittertem Gesicht Ȭ in schaumbedeckten, auf die Erde herabgelassenen Wolken in Kirchen herum. Manchmal, wenn er sie besuchte, schien es ihm, ihr Schrubber sei wie ein Ruder, ihr blauer Rock wie ein Segel, mit
denen sie die auf die Erde herabgefallene Wolke wieder in den Himmel hinaufzusteuern gedachte: Aber immer klebte die Wolke am Boden, bewegte sich nur langsam auf irdischer Ebene vom Eingang zur Kommunionbank Ȭ und dann Ȭ ehrfürchtig langsam und mit weißerem Schaum bedeckt Ȭ um den Altar herum.
In Boldas Zimmer war es gemütlich, obwohl alles nach Seifenschaum, zerkochten Steckrüben und nach der gemeinen Bouillon roch. Ihr Sofa Ȭ so sagte die Mutter Ȭ roch nach Nonnenwartezimmer, und in diesem Wort war eine Anspielung enthalten, die er wohl begriff, eine Anspielung auf Boldas Vergangenheit, die eine Nonnenperiode enthielt. Ihr Bett Ȭ so sagte ebenfalls die Mutter Ȭ sah aus wie Tarzans Lager im Walde, aber das Licht der Gaslaternen draußen fiel in Boldas Zimmer und strahlte alles grünlichȬgelb an, und wenn er die Bouillon getrunken und die beiden Brötchen gegessen hatte, öffnete sie eine Schublade und holte das Unvermeidliche, das er nur ihretwegen mit einem Lächeln annahm: klumpig zusammengeklebte Malzbonbons. Er legte sich auf Boldas Sofa, als er mit Essen fertig war, steckte eine Malzbonbon in den Mund, schloß die Augen halb und beobachtete das grünȬgelbliche Gaslicht. Bolda machte kein Licht, wenn er bei ihr war. Sie saß am Fenster über ihrem winzigen Bücherbord, das nur zwei Arten von Lesestoff enthielt: Gebetbücher und Kinoprogramme. So oft sie ins Kino ging, ließ sie sich für einen Groschen das Programm geben, nahm es dann später vor, betrachtete die Bilder eingehend und rekonstruierte, indem sie ihm davon erzählte, den Film genau. Sie schloß dann, um sich zu sammeln, die Augen, öffnete sie nur gelegentlich, um an den Bildern ihre Erinnerung zu wecken, und erzählte ihm ganze Filme, Szene für Szene, unter leichter Abänderung der Realität. Auf die Hauptfiguren tippte sie dann mit den Fingern, wenn sie in ihrer Erzählung auftauchten, und alles war dunkel, grell und schaurig wie eine Moritat, Gemeinheit—Ruchlosigkeit—Hurerei Ȭ aber auch Edelmut, Unschuld. Wunderschöne Männer, die von wunderschönen Frauen — wunderschöne Frauen, die von wunderschönen Männern
»hintergangen« wurden — und der heilige Paulus, auf dem Wege nach
Damaskus vom Blitzstrahl Gottes getroffen. Da war er, der heilige Paulus, bärtig und feurig auf dem Programmheft. Und die heilige Maria Goretti, von
wiß hatte es mit unmoralisch und unschamhaft zu tun Ȭ, von einem sinnlichen
Schwein heimtückisch ermordet. Meistens aber waren es Filme mit wunderschönen Frauen, die Nonnen wurden, es schien viele Nonnenfilme zu geben, die er alle nicht zu sehen bekam, denn quer über das Plakat war, wenn eine Nonne darauf war, nie der weiße Streifen geklebt: jugendfrei. Heute aber schien Bolda keine Lust zu haben, einen Film zu erzählen: Im grüngelben Licht der Gaslaternen hockte sie am Fenster und kramte in ihrem Gebetbuchstapel, bis sie das richtige gefunden zu haben schien. Zum Glück war es keins mit Noten, denn sonst hätte sie eine Stunde lang gesungen: Es war eins ohne Noten, und ihr ruhiges, gemurmeltes Gebet war angenehm; von hinten, so schmal und mit dem pechschwarzen Haar, sah sie fast wie Brielachs Mutter aus. Dunkler wurde es, grüner das Licht, das Boldas dunkle Möbel fast wie die Panzer schillernder Käfer erglühen ließ, und viel früher, als er erwartet hatte, hörte er die Mutter unten, hörte Autos draußen halten, das Lachen der Mutter, umgeben vom Lachen anderer, Fremder, und er haßte die fremden Lacher, haßte ihre Gesichter, noch bevor er sie gesehen hatte; haßte die Schokolade, die sie mitbringen, die Geschenke, die sie auspacken, die Worte, die sie sagen, die Fragen, die sie stellen würden.
Und er sagte leise zu Bolda: »Sag, daß ich noch nicht da bin, und mach kein
Licht.«
Bolda unterbrach ihr Gebet: »Deine Mutter wird einen Schrecken kriegen, wenn du nicht da bist.« »Wir brauchen ja nicht zu hören, daß sie gekommen ist.« »Nicht lügen, mein Söhnchen.« »Aber eine Viertelstunde kann ich noch bleiben?« »Gut, aber keine Minute länger.«
Wäre die Mutter allein gekommen, er wäre hinuntergelaufen, auf die Gefahr
hin, daß Blut im Urin sofort ausbrechen würde. Aber er haßte alle Leute, die zur Mutter kamen, besonders den Dicken, der immer von Vater sprach. Weiche Hände und »exquisites Zuckerzeug«. Noch grüner wurde das Licht, schwärzer wurde Bolda und ihr Haar noch schwärzer als sie selbst: dicke, tintige Finsternis ihr Haar, auf das nur ein Tupfer, ein winziger Hauch des grünen Lichts fiel: trockenes, langes, ganz glattes Haar und Boldas Gemurmel und im Dunkeln, was immer im Dunkel auftauchte: Gäseler Ȭ und unmoralisch und unschamhaft und das
Wort, das Brielachs Mutter zu dem Bäcker gesagt hatte Ȭ und Katechismusnummern, die aus dem Dunkeln rappelten: Wozu sind wir auf Erden ?
Unmoralisch war alles, und vieles war unschamhaft, und Brielach hatte kein Geld und rechnete stundenlang herum, wie er sparen könnte.
Boldas Gemurmel am Fenster, die dunkle Indianerin, und das Zimmer erfüllt von dem Spiel des grünlichȬgelblichen Lichts, und der Wecker auf dem Bord über Boldas Bett, der leise und langsam tickende Wecker, während unten sich Lärm ausbreitete, unerbittlich alles zerstörender Lärm; kichernde Frauen, laȬ chende Männer, und die Schritte der Mutter, die schlechtgeölte Kaffeemühle Ȭ
»oder mögen Sie lieber Tee?« Ȭ, bis plötzlich das wilde Gebrüll in der Diele
ertönte: »Ich habe Blut im Urin Ȭ Blut im Urin.«
Atemlose Stille dort unten, und er empfand fast Genugtuung über Großmutters Gewaltakt. Bolda klappte ihr Gebetbuch zu, wandte sich zu ihm und schubste die Schultern, freundlich und innig und sehr ausgiebig kichernd, und sie flüsterte leise: »Was Ȭ das hat sie doch mal gut gemacht — oh, du hättest sie früher kennen müssen, so schlimm ist sie nicht.« Blut im Urin.
Das schien Mutters Gästen nicht die gewohnte Musik, hielt sie für
Augenblicke im Bann, dann machte wieder gedämpftes Gemurmel sich unten breit. Er hörte die Stimme der Mutter aus Alberts Zimmer, wo sie mit dem Arzt telefonierte, und die Großmutter schwieg, denn nun, nachdem man den Arzt angerufen hatte, war ihr sicher, was zunächst genügte: Die Spritze. Seltsames, geheimnisvolles Instrument aus Nickel und Glas, winzig und sauber, viel zu sauber, libellenhaftes Tier mit dem Schnabel eines Kolibri Ȭ durchsichtiger Kolibri, der sich den Bauch vollsaugte aus dem Glasröhrchen und seine spitze Schnauze dann in Großmutters Arm bohrte.
Die Stimme der Großmutter, die dunkel und reich wie eine Orgel aufbrüllen
konnte, erklang jetzt aus Mutters Zimmer. Sie sprach mit den Gästen.
Bolda knipste das Licht an, und vorbei war der grüne Zauber, der schwarze Zauber, vorbei das Glück, auf Boldas Nonnenwartezimmersofa zu hocken und ihr Gemurmel zu hören. »Nichts mehr zu machen, mein Söhnchen, jetzt mußt du runter, kannst
gleich ins Bett gehen, hab keine Angst, du darfst sicher bei Onkel Albert
schlafen.«
Bolda lächelte, denn sie hatte das richtige Zauberwort gefunden: bei Onkel Albert schlafen.
Er lächelte Bolda zu, sie lächelte ihm zu, und er stieg langsam allein die Treppe hinunter Ȭ wie der Schatten eines riesigen wilden Tiers stand die Großmutter in der offenen Tür zu Mutters Zimmer, und er hörte sie sagen, ganz sanft sagte sie es mit ihrer dunklen Orgelstimme: »Meine Herrschaften, bedenken Sie bitte, ich habe Blut im Urin.« Ein Alberner sagte drinnen:
»Gnädige Frau, der Arzt ist schon verständigt.«
Nun aber hatte sie ihn gehört, schwenkte heftig herum, stürzte in ihr Zimmer und brachte die Urinflasche wie einen kostbaren Tribut, den er Ȭ auf der dritten Treppenstufe stehend Ȭ entgegennehmen mußte: »Denke, mein Herzchen, ich habe es wieder.«
Und er sagte, was zu sagen er verpflichtet war in dieser weihevollen Stunde:
»Ist ja nicht so schlimm, liebe Großmutter, der Doktor wird kommen.«
Und sie sagte, was zu sagen sie gewohnt war in dieser weihevollen Stunde, das Uringlas langsam zurücknehmend, nachdem sie annehmen konnte, er habe die dunkelgelbe Brühe gebührend gewürdigt. Sie sagte: »Du bist gut, mein Herzchen, denkst an die Oma«, und er schämte sich, weil er gar nicht gut von der Oma dachte.
Wie eine Königin schritt sie in ihr Zimmer zurück. Die Mutter kam aus der
Küche gestürzt, küßte ihn, und er sah an ihren Augen, daß sie im Laufe des Abends irgendwann weinen würde. Er hatte die Mutter gern, und ihr Haar roch so gut, und er mochte sie, obwohl sie albern werden konnte wie die Leute, die sie immer mitbrachte.
»Dumm, daß auch Albert wegmußte, er wollte mit dir essen.« »Bolda hat mich versorgt.«
Kopfschütteln und Lachen, wie es üblich war, wenn er Boldas Küche genossen hatte, und eine zweite Frau, blond wie die Mutter, Boldas schmutzige braune Schürze vorgebunden, diese fremde Frau, die hartgekochte Eier auf dem Küchentisch in Scheiben schnitt, lächelte ihn blöde an, und die Mutter sagte, was sie bei dieser Gelegenheit zu sagen pflegte,
Und die Frau sagte das Wort, das sie sagen mußte, die Frau sagte: »Süß!«
»Süß«, riefen jetzt auch andere alberne Weiber, die aus Mutters Zimmer kamen, »Süß«, und zwei Männer fanden es nicht zu blöde, auch »Süß« zu rufen. Er fand alle Leute, die abends die Mutter besuchten, albern Ȭ und diese albernen Kerle hatten die männliche Variante zu »Süß« entdeckt, sie riefen:
»Entzückend« Ȭ, und er mußte, mußte mit ihnen gehen, Schokolade in
Empfang nehmen, aufdrehbare Autos, und als er sich endlich wieder wegschleichen durfte, mußte er anhören, was sie sich zuflüsterten: »Ein phantastisches Kind.«
Oh, grüne Dunkelheit oben in Boldas Zimmer, auf Boldas Nonenwartezimmercouch oder Glums Zimmer mit der großen Karte an der Wand.
Er ging in die Küche zurück, wo das blöde Weib jetzt Tomaten in Scheiben schnitt, und er hörte sie sagen: »Ich mag improvisierte Mahlzeiten so gern.« Die Mutter entkorkte Flaschen, Teewasser brodelte, rosige Schinkenscheiben lagen auf dem Tisch, ein gekochtes Huhn lag da: weißliches Fleisch, leicht grünlich schimmernd, und die fremde blonde Frau sagte: »Salat aus Hühnerfleisch, einfach phantastisch, liebe Nella.« v Er erschrak: Leute, die zur Mutter »liebe Nella« sagten, kamen öfter als die, die nur »Frau Bach« sagten.
»Kann ich jetzt in Onkel Alberts Zimmer gehen?« »Ja«, sagte die Mutter, »geh
nur, ich bringe dir was zu essen.« »Ich möchte nichts mehr essen.« »Wirklich nichts?«
»Nein«, sagte er, und plötzlich tat ihm die Mutter leid, die nicht sehr glücklich aussah, und er fügte leise hinzu: »Danke, wirklich nicht.«
»Oh«, sagte die fremde Frau, die jetzt die Knochen des Huhns mit einem
Messer abschabte, »ich hörte schon, daß Albert Muchow bei Ihnen lebt, liebe Nella, ich bin ja so neugierig, den ganzen Kreis kennenzulernen, der Ihren Gatten gekannt hat. Es ist himmlisch, ins Zentrum des geistigen Lebens einzudringen.« In Alberts Zimmer war es schön, es roch nach Tabak und nach frischer Wäsche, die Albert in Stapeln immer im Schrank liegen hatte. Schneeweiße, grün gestreifte, rostbraun gestreifte frischgewaschene Hemden, die wunderbar rochen. Sie rochen so gut wie das Mädchen aus der Wäscherei, das sie brachte, sie war so
hellhaarig, daß ihr Haar fast die Farbe ihrer Haut hatte. In vollem Licht sah sie schön aus, und er mochte sie, weil sie immer freundlich, nie albern war. Und meistens brachte sie ihm Reklameluftballons mit, die er aufblasen und mit denen er Ȭ zusammen mit Brielach Ȭ stundenlang im Zimmer Faustball spielen konnte, ohne fürchten zu müssen, daß etwas kaputtging: riesige und stramme, sehr zarte Blasen, auf die mit flüssiger Kreide geschrieben war:
»Buffo wäscht dir alles.« Auf Alberts Tisch lagen immer Stapel von
Zeichenpapier herum, und der Malkasten stand in der Ecke neben Alberts Tabakdose.
Aber drüben in Mutters Zimmer wurde gelacht, und er ärgerte sich und wünschte, er hätte auch ein Uringlas schwenken und durchs ganze Haus schreien können: »Ich habe Blut im Urin.« — Schon wieder war ein Abend verdorben, denn auch Albert würde hinübergehen müssen. Sonst, wenn Mutter zu Hause war und kein Besuch kam, saßen sie abends immer in Mutters Zimmer, und manchmal kam Glum dazu für eine halbe Stunde, erȬ zählte was, oder Albert setzte sich ans Klavier und spielte, und die Mutter las, und noch schöner war es, wenn Albert ihn abends spät noch mit dem Auto rundfuhr oder mit ihm Eis essen ging. Er liebte das grelle bunte Licht der Eisdiele, das von dem großen Hahn in den Raum strahlte, er mochte die scharfe Schallplattenmusik und das kalte Eis, die wilde, grellgrüne Limonade, in der Eisklümpchen schwammen, und er haßte die albernen Männer und Weiber, die ihn süß und entzückend fanden und die Abende verdarben. Er warf die Lippen auf, klappte den Deckel des Malkastens hoch, nahm den langen, dicken Pinsel, tunkte ihn ins Wasser und wälzte ihn lange und ausgiebig in Schwarz. Draußen hielt ein Auto, und er hörte sofort, daß es nicht Alberts Wagen war, sondern der Wagen des Arztes; er legte den Pinsel aus der Hand, wartete, bis es klingelte, und lief in die Diele, denn nun kam, was immer kam und ihn immer wieder erregte. Die Großmutter stürzte aus ihrem Zimmer, brüllte: »Doktor, guter Doktor, schon wieder Blut im Urin«, und der schüchterne, kleine, schwarzhaarige Doktor lächelte, schob die Großmutter mit sanftem Nachdruck in ihr Zimmer, nahm das Ledertäschchen aus dem Rock, das so groß war wie das Zigarrenetui des Tischlermeisters in Brielachs Haus. Vorsichtig knöpfte er der Großmutter, die sich auf den Sessel gesetzt
schüttelnd ihren schneeweißen, fleischigen Arm, der wirklich so weiß war
wie Onkel Alberts Hemden, und jedesmal murmelte der Arzt: »Wie ein junges Mädchen, wie ein junges Mädchen« Ȭund die Großmutter lächelte und starrte triumphierend auf ihre Urinflasche, die entweder mitten auf dem Tisch oder auf dem Teewagen stand.
Martin durfte immer die Ampulle halten, was die Mutter nie fertigbrachte.
»Ich werdȇ schon krank, wenn ich es sehe«, und wenn der Arzt den Hals der Ampulle durchgesägt hatte, hielt Martin die Ampulle ganz ruhig, so daß der Doktor sagen konnte, was er bei dieser Gelegenheit sagen mußte:
»Tapferer, kleiner Kerl« Ȭ und Martin beobachtete genau, wie der schmale,
kleine Kolibrischnabel sich in die blasse
Flüssigkeit schob, wie der Arzt den Kolben nach hinten zog, die
Spritze sich füllte, sich vollsog mit weißlichem Nichts, dessen
Wirkung so ungeheuerlich war. Unendliches Glück, Sanftmut und
Schönheit auf Großmutters Gesicht. Und noch immer wurde ihm weder schlecht noch spürte
er die geringste Angst, wenn der Arzt den Kolibrischnabel ganz
plötzlich in den Arm der Großmutter stieß Ȭ
es war fast wie ein BißȬ, und die weiße,
zarte Haut schob sich ein wenig vor dabei, wie wenn ein Vogel in
eine Pelle pickte, und die Großmutter blickte unverwandt seitlich
auf die untere Etage des Teewagens, wo Blut im Urin stand, während
der Arzt den Kolben sachte nach unten drückte und das unendliche
Glück in die Großmutter hineinspritzte Ȭ
wieder ein Ruck, wenn er den Schnabel aus Großmutters Arm zog, und
der seltsame, so gespenstische, so unheimliche Glücksseufzer der
Großmutter. Er blieb dann bei ihr, wenn der Arzt gegangen war,
obwohl er Angst hatte; die Neugierde war stärker als die Angst;
hier geschah etwas, was so schrecklich war, so schrecklich wie das,
was Grebhake und Wolters im Gebüsch getan hatten, und so
schrecklich wie das Wort, das Brielachs Mutter im Keller zum Bäcker
gesagt hatte — schrecklich, aber auch schön und geheimnisvoll. Nie
sonst wäre er freiwillig bei der Großmutter geblieben, aber wenn
sie die Spritze bekam, blieb er: Sie lag dann auf ihrem Bett, und
es strömte von innen über sie, helle Welle, die sie jung machte,
glücklich und unglücklich, denn sie seufzte tief und weinte
zugleich, blühend wurde ihr Gesicht, fast so glatt und schön wie
das Gesicht der Mutter, es glättete sich, die Augen leuchteten,
Glück breitete sich aus und
nen weiterströmten, und er liebte die Großmutter plötzlich, liebte ihr
großes, breites, so blühendes Gesicht, das ihm sonst Schrecken einflößte — und er wußte, was er tun würde, wenn er einmal groß war und unglücklich war: sich in den Arm picken lassen von dem kleinen Kolibri, der Glück in die Großmutter hineinschob, winzige Menge farblosen Nichts. Er ekelte sich vor nichts mehr, nicht einmal mehr vor der Flasche, die auf der untersten Etage des Teewagens stand.
Dann legte er die Hand auf das Gesicht der Großmutter, er ließ sie erst auf
der linken Wange ruhen, legte sie auf die rechte, auf die Stirn, und hielt sie lange über den Mund der Großmutter, um den warmen und ruhigen Atem zu spüren, aber zuletzt ließ er seine Hand lange auf Großmutters Wange ruhen, und er haßte sie nicht mehr; wunderschönes Gesicht, von einem halben FinȬ gerhut voll blassen Nichts so verändert. Manchmal schlief die Großmutter noch gar nicht, und sie sagte mit geschlossenen Augen sanft: »Guter Junge«, und er schämte sich, weil er sie sonst haßte. Wenn sie eingeschlafen war, konnte er in Ruhe ihr Zimmer betrachten, wozu er sonst vor lauter Angst und Ekel keine Zeit fand Ȭ die große dunkle Vitrine Ȭ kostbar und alt, vollgeȬ packt mit Gläsern jeder Größe, jeder Dicke: Kristallschalen und winzige, dünne Schnapsgläschen, gläserne Figuren: das milchig gemusterte blauäugige Glasreh, Bierhumpen Ȭ, und später, immer noch die Hand auf Großmutters Gesicht, sah er zu dem Foto seines Vaters hin; es war größer als das, das die Mutter über dem Bett hängen hatte, und auf diesem hier war der Vater noch jünger; sehr jung und lachend, er hatte die Pfeife im Mund, und das sehr dunkle Haar stand hart und dicht vor einem hellen Himmel: weiße Wölkchen auf dem Himmel, gerollte Watteklümpchen, und das Bild war so scharf, daß er das erhabene Muster auf den Metallköpfen von Vaters Strickweste erkennen konnte: Es waren Blumen, und die schmalen, dunklen Augen des Vaters blickten ihn an, als stände er wirklich dort, wo im dämmerigen Winkel zwischen Vitrine und Teewagen das Bild hing, und niemals, niemals wußte er, ob der Vater auf diesem Bild traurig oder froh war. Sehr jung sah der Vater aus, fast wie die Jungen, die in der obersten Schulklasse waren. Wie ein Vater sah er jedenfalls nicht aus. Väter sahen älter aus, mächtiger und ernster. Väter sahen nach Frühstücksei aus, nach Zeitung
Onkel Albert den Onkeln anderer Jungen glich,
so wenig glich der Vater den Vätern anderer Jungen. Daß der Vater
so jung war, machte ihn stolz, war ihm aber auch peinlich, er sah
fast so aus, als wäre er kein richtiger Vater Ȭ so wie die Mutter ihm nicht wie eine richtige Mutter
erschien: Sie roch nicht wie die Mütter anderer Jungen, war
leichter und jünger und sprach nie von dem, was anderer Leute
Leben, was anderer Jungen Mütter entscheidend zu formen schienen,
niemals sprach die Mutter von Geld. Der
Vater sah nicht glücklich aus Ȭ das
entschied er immer zum Schluß hin, aber er sah auch nicht nach dem
Wort aus, was bei anderen Vätern meist vorherrscht: Der Vater sah
nicht nach Sorgen aus. Alle Väter hatten
es: Sorgen, alle Väter waren älter, sie
sahen auf eine andere Weise nicht glücklicher aus als der Vater...
Auf Glums Landkarte oben, die die ganze Wand bedeckte, gab es drei
dicke schwarze Punkte; der erste war der Ort, wo Glum geboren war,
der zweite war der Ort, wo sie wohnten, und der dritte der, wo der
Vater gefallen war: Kalinowka. Er vergaß die Großmutter, obwohl
seine Hand noch auf ihrem schlafenden Gesicht lag, er vergaß die
Mutter un d die albernen Gäste,
Glum und Bolda vergaß er, sogar Onkel Albert, und er betrachtete in
Ruhe das Bild des Vaters in der dämmerigen Ecke zwischen Vitrine
und Teewagen.
Er saß noch da, als die Mutter ihn holte, Albert längst gekommen war. Er ging
mit, ohne ein Wort zu sagen, zog sich aus, legte sich in Alberts Bett, sprach das Nachtgebet: Wenn Du der Sünden willst gedenken, Herr, und als Albert ihn fragte, ob er müde sei, sagte er ja, weil er gern allein sein wollte. Wenn das Licht ausgeknipst war, störte ihn nicht einmal mehr das alberne Lachen von nebenan Ȭ er schloß die Augen, sah das Bild des Vaters vor sich und hoffte, er werde in den Traum kommen, so wie er dort war, jung und ohne Sorgen, vielleicht lachend, so jung wie er auf dem Bild war, viel jünger noch als Onkel Albert. Mit diesem Vater ging er spazieren, in den Zoo Ȭ er fuhr lange Strecken mit ihm über die Autobahn, zündete ihm die Zigaretten, die Pfeife an, half ihm das Auto waschen und nachgucken, wenn etwas kaputt war, ritt neben dem Vater weite Strecken in endlose Ebenen hinein Ȭ und er genoß es, zu sagen, leise vor sich hinzumurmeln: Wir reiten gegen den Horizont Ȭ
»Horizont« wiederholte er langsam und feierlich, und er hoffte und betete, der Vater möge so in die Träume kommen, reitend, autofahrend Ȭ
Das Bild verließ ihn nicht, solange er wach lag, und alle die Gegenstände sah
er, die seinem Vater gehört hatten, die Armbanduhr und die Strickweste und das Notizbuch, in dem angefangene Gedichte standen. Verzweifelt aber und vergeblich kämpfte er um den Traum vom Vater. Nie kam er. Das Zimmer war dunkel, und er lag dort allein, und wenn Onkel Albert herüberkam, um nach ihm zu sehen, stellte er sich schlafend, um allein und ungestört zu bleiben, und hielt, solange Albert im Zimmer war, hinter geschlossenen Augen das Bild fest: einen lachenden Jüngling mit der Pfeife im Mund, der nicht wie ein Vater aussah. Er durchwanderte die Länder, indem er ihre Namen leise vor sich hinmurmelte: Frankreich, Deutschland, Polen, Rußland, Ukraine, Kalinowka, und er weinte später im Dunkeln und flehte um den Traum, der ihm nie gewährt wurde. Onkel Albert war dabeigewesen, als der Vater fiel, und er erzählte es manchmal, von Gäseler und dem Dorf und dem Krieg, den er Scheißkrieg nannte, aber alles nützte nichts Ȭ auch dadurch kam der Vater nicht so in den Traum, wie er es wünschte. Die Erde, in der der Vater ruhte, stellte er sich vor wie Boldas Haar. Tintige Finsternis, die Vaters Gestalt verschluckte, ihn festhielt wie klebriger, frischer Asphalt, ihn so festhielt, daß er nicht in die Träume kommen konnte. Das Äußerste, was er erreichen konnte, war, daß das Gesicht des Vaters weinte, aber auch weinend kam er nicht in den Traum. Und er konnte das Gesicht des Vaters im Dunkeln nur bei sich haben, wenn er das Bild in Großmutters Zimmer in Ruhe hatte betrachten können, und das geschah nur, wenn Blut im Urin gespielt, der Arzt angerufen und die Großmutter mit Glück gespritzt wurde.
Er sagte alle Gebete, die er kannte, und hängte an jedes Gebet die Bitte: Schicke mir den Vater in den Traum... Aber als der Vater wirklich kam, war er anders, als er ihn sich gewünscht hatte: Er saß unter einem großen Baum, die Hände vors Gesicht geschlagen, und obwohl die Hände vor dem Gesicht lagen, wußte er, daß es der Vater war. Der Vater schien zu warten auf etwas, worauf er schon unendlich lange wartete, er sah aus wie jemand, der seit Millionen Jahren dort saß und sein Gesicht bedeckte, weil es so traurig war, und wenn der Vater die Hände vom Gesicht nahm, erschrak er jedesmal, obwohl er wußte, was dann kam. Der Vater hatte kein Gesicht, und es
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schien, als wollte er sagen: Jetzt weißt duȇs. ȬVielleicht wartete der Vater unter diesem Baum auf sein Gesicht. Schwarz war die Erde wie Boldas Haar, und der Vater war allein und ohne Gesicht, und obwohl er kein Gesicht hatte, sah er unendlich traurig und müde aus, und wenn er anfing zu sprechen, erwartete er immer, daß der Vater Gäseler sagen würde, aber der Vater sagte nie den Namen, nie ein Wort von Gäseler. Der heftige Lachanfall eines albernen Weibes nebenan weckte ihn, und er weinte seine Wut, seinen Haß und seine Enttäuschung ins Kissen hinein, weil der Traum vom Vater nun plötzlich abgeschnitten war: Vielleicht hätte er plötzlich ein Gesicht bekommen und gesprochen.
Er weinte heftig und lange, bis das Lachen nebenan ferner klang, immer
ferner, und im nächsten Traum sah er nun die blonde Frau in der Küche anstatt Eier und Tomaten riesige Ampullen zersägen, Glasballons, deren Inhalt der lächelnde Doktor in riesige Spritzen hineinsog.
Bolda rutschte langsam heran, mit schneeweißem Gesicht und kohlefarbenem Haar, auf einer Seifenwolke rudernd, ganz glatt im Gesicht, so glatt wie die Großmutter nach der Spritze, und Bolda sang schön, wunderschön, schöner noch als Frau Borussiak sang; so ruderte Bolda in den Himmel hinauf, mit den Zähnen festhaltend, was wie eine Eintrittskarte in den Himmel aussah: das Kinoprogramm mit dem Bild der heiligen Maria Goretti.
Aber der Vater, auf den er auch im Traum noch wartete, kam nicht wieder zurück, endgültig war er verdrängt durch albernes Lachen aus dem Nebenzimmer Ȭ und die Eierzerschneiderin verdrängte Bolda, schwamm durch die Luft wie durch Wasser und rief: süß, süß, süß, bis die dunkle Orgelstimme der Großmutter aus dem Hintergrund kam, wildes dunkles Gebrüll: Blut im Urin.
6
Langsam wurde Heinrich klar, wie es war: Es war das Gefühl, auf Eis zu gehen, auf dünnem Eis über eine Wasserfläche, deren Tiefe unbekannt ist. Das Eis war noch nie eingebrochen, und es gab Hilfe, alle standen lächelnd
an den Seiten, bereit hinzuzuspringen, wenn es einbrach: Aber dieser
daran, daß es einbrechen würde und die Tiefe des Wassers unbekannt blieb.
Der erste Riß in diesem Eis hatte sich gezeigt, ein ungefährlicher Knacks noch, als er Martins Schrecken über das Wort sah, das seine Mutter zum Bäcker gesagt hatte, es war ein häßliches Wort für die Vereinigung der Männer mit den Frauen, aber er fand überhaupt Vereinigung ein viel zu schönes Wort für einen Vorgang, den er nicht sehr schön fand: knallrote Gesichter, Gestöhn: Als Leo noch nicht sein Onkel war, hatte er ihn mit der Schaffnerin gesehen: als er die Suppe hinüberbringen wollte und nicht anklopfte: der wilde, entsetzliche Schrei der Schaffnerin und Leo mit seinem Affengesicht. Verfluchter Bengel Ȭ Tür zu, und Tage später schlug ihn Leo mit der Knipszange ganz kurz und hart auf den Kopf und sagte: »Freundchen, ich werde dir beibringen, was Anstand ist. Kannst du nicht anklopfen?« Später war die Tür immer abgeschlossen, aber wahrscheinlich vollzog sich nichts anderes, wenn die Mutter zu Leo hinüberging. Vereinigung war ein schönes Wort für etwas, was er häßlich fand Ȭ aber vielleicht ging es bei den Leuten, die Geld hatten, wirklich anders zu. Vielleicht. Das Wort, das von Onkel Leo stammte, war häßlich, aber es paßte besser. Martins Erschrecken zeigte an, wie tief das Wasser unter der Eisschicht stand. Unendlich tief schien es zu sein und kalt, und niemand konnte einen vor dem Einbrechen bewahren. Es war nicht nur das Geld und der Unterschied zwischen dem, was bei Martin immer im Eisschrank bereitstand, und dem, was er täglich einkaufen mußte, auf die Pfennige achtend: Brot, Margarine, Kartoffeln und für den dreckigen Leo ein Ei, selten einmal eins für Wilma, ihn oder die Mutter. Es war der Unterschied zwischen Onkel Albert und Leo, der Unterschied zwischen Martins ErȬ schrecken über das Wort und seinem leichten Zusammenzucken, das Ekel darüber bedeutete, daß das Wort schon in die Mutter eingedrungen war.
Der Unterschied zwischen Martins Mutter und seiner Mutter war eigentlich nicht so groß, er war bereit anzunehmen, daß nur das Geld sie unterscheide. Und vielleicht, vielleicht würde das Eis nie einbrechen.
Auch in der Schule bewegte er sich auf diesem Eis: Der Kaplan zum Beispiel war fast aus dem Beichtstuhl gefallen, als Martin in der Beichte von dem Wort gesprochen hatte, das seine Mutter zum Bäcker gesagt hatte, und Martin hatte fünf Vaterunser und
fünf Ave Maria extra beten müssen wegen dieses Wortes, das er doch nur
gehört hatte, sanfte und freundliche Stimme des Kaplans, der von der unbefleckten Jungfrau sprach, OnkelȬWillȬStimme, die von der heiligmachenden Gnade sprach, von Reinheit des Herzens und einer keuschen Seele: wunderschöne Stimme und das gute Gesicht des Kaplans, der durchgesetzt hatte, daß seine Mutter Geld für die Erstkommunion bekam, obwohl sie unmoralisch war. Aber kannte der Kaplan das saubere, rote, nach Rasierwasser duftende Affengesicht von Onkel Leo, kein Gesicht einer keuschen Seele?
Er ging auf Eis über einer Wasserfläche, deren Tiefe sich erst herausstellen
würde, wenn das Eis einbrach. Auch die Mutter war anders geworden, sie hatte das Won ausgesprochen, aber vorher schon war sie anders geworden, hart: Er hatte sie sanft in Erinnerung, freundlich und still, wie sie Onkel Erichs Brust in der Nacht geduldig mit Essigtüchern behandelt, wie sie Gert zugelächelt, wie sie mit Karl gesprochen hatte, bevor »es« weggemacht worden war. Hart war ihr Gesicht im Krankenhaus geworden.
Das Eis war stellenweise am Rande schon eingebrochen, an ungefährlichen seichten Stellen, wo es leicht wieder zufrieren konnte. Wills Nachtschweißgeschichte zum Beispiel brachte ihn nur zum Lachen. Er lächelte darüber, wie er über Wills BuchȬ und Filmgespräche lachte: traumhaftes Gemurmel, Wasserbläschen aus dem Munde eines verwunschenen Geistes, die vom Grunde des Wassers her zu ihm aufstiegen und bis an die Eisdecke drangen, spielerische Effekte ergaben, ähnlich denen, die der Springbrunnen im Eissalon zustande brachte. Nah war der Preis der Margarine, der gerade wieder anstieg, nah war die Kalkulation, die er für die Mutter machen mußte. Mutter konnte nicht rechnen, konnte nicht sparen, und die gesamte Haushaltskalkulation war seine Sache. Nah war das nackte Gesicht von Onkel Leo, der OnkelȬLeoȬWorte gebrauchte, gegen die Gerts Erbschaft »Scheiße« ein mildes und sanftes Wort war. Nah war die Fotografie des Vaters, auf den er sich zuwachsen fühlte, nah war das Gesicht der Mutter, das härter, deren Mund dünner wurde und sich immer häufiger der OnkelȬLeoȬWorte bediente, die immer häufiger mit Leo tanzen ging, OnkelȬ LeoȬLieder sang, was in den Filmen ganz bestimmte Frauen taten, Frauen
Schön war das Kino, gut war es dort, warm. Niemand sah einen, niemand konnte mit einem sprechen, und man konnte, was man sonst nicht konnte: vergessen.
Was der Lehrer sagte, war wie das, was der Kaplan sagte: Es perlte fremd und
spielerisch an die Eisdecke heran, auf der er einherging, aber es drang nicht bis zu ihm durch. Die Eier wurden teurer, das Brot schlug um fünf Pfennige pro Kilo auf, und Leo, das Schwein, beklagte sich über das schlechter werdende Frühstück, über die Kleinheit des Eis und beschuldigte ihn der Unterschlagung. Das war nah. Haß auf diesen Affen, der außerdem dumm war und sich durch die vorgelegte Kalkulation überzeugen lassen mußte, aber das Wort blieb: »Unterschlagung« Ȭ und die Mutter, er hatte sie genau beobachtet, hatte für einen Augenblick Leo geglaubt, nur für einen Augenblick, aber ein Augenblick war viel. Er mußte sparen, weil sie dauernd ausgingen Ȭ und für Wilma wurde kein Kleid gekauft, Unterschlagung. Er konnte es niemand sagen, Martin würde es gar nicht verstehen, und er scheute sich noch, mit Onkel Albert darüber zu sprechen. Später würde er es tun, denn Onkel Albert war der einzige, der begreifen würde, was es hieß, ihn der Unterschlagung zu bezichtigen. Seine Rache war hart gewesen. Er hatte für vierzehn Tage die Besorgungen, die Einkäufe niedergelegt: sollte Mutter es tun, sollte Leo sich drum kümmern, und siehe da: Schon nach einer Woche war nichts zu fressen mehr da, heillose Mißwirtschaft; Heulen bei der Mutter und Zähneknirschen bei Leo, bis sie ihn anflehten, anflehten, es doch wieder zu machen Ȭ und er tat es, aber er vergaß den Augenblick nicht, in dem die Mutter ihn verdächtigt hatte.
Über solche Dinge konnte er in Martins Haus nur mit Albert sprechen, und
später, wenn er mit Albert zu dessen Mutter in die Ferien fuhr, wo Will die Betreuung von Wilma übernahm: Dort würde sich eine Gelegenheit ergeben, mit Albert über das ungeheuerliche Wort »Unterschlagung« zu sprechen. Die verrückte Bolda war gut, aber auch mit ihr konnte man nicht über Geld sprechen, und Martins Mutter unterschied sich zwar von seiner Mutter nur durch das Geld, aber es kam noch etwas hinzu: Sie war schön, auf ihre Art schöner als die Mutter, sie war wie die Frauen im Film, und von Geld verstand sie nichts. Mit der Großmutter über Geld zu sprechen, war
Großmutter, Will und Martins Mutter, aber auch das Geld machte die
Eisschicht nicht stabiler und nahm der Tiefe des Wassers nichts von ihrer Ungewißheit. Gewiß, er konnte der Mutter was kaufen, Handtasche aus rotem Leder und rote Lederhandschuhe dazu, wie er es bei einer Frau im Film gesehen hatte, er konnte Wilma was kaufen, er konnte ins Kino gehen, Eis essen, die Haushaltskasse mit Reserven versehen, und er konnte Leo ostentativ nichts kaufen und ihn ostentativ nicht an der Verbesserung teilnehmen lassen, die der Haushalt erfuhr Ȭ aber soviel Geld war es wiederum nicht, daß er das Haus kaufen konnte, alles, was damit zusammenhing, die Gewißheit, nicht mehr auf Eis zu gehen und vor allem würde es nie den Unterschied zwischen Onkel Albert und Leo kaufen können. Was in der Schule gesagt wurde vom Lehrer und vom Kaplan, entsprach dem, was Karl gesagt hatte, »neues Leben«, ein schönes Wort, mit dem er sogar eine Vorstellung verband, eine Vorstellung, von der er aber wußte, daß sie nicht zu verwirklichen war. Fetter und doch härter war das Gesicht der Mutter geworȬ den: Sie wuchs vom Vater weg, wurde älter als der Vater, viel älter, während er auf den Vater zuwuchs: sie war jetzt alt, uralt erschien sie ihm, und doch war sie ihm jung erschienen, als »es« im Krankenhaus weggemacht worden war, und als Leo zum erstenmal mit ihr tanzte. Und ihre Hand war schwerer geworden, die Hand, die sie ihm abends flüchtig auf die Stirn legte, bevor sie zu Leo hinüberging, um sich mit ihm zu vereinigen. Ihm blieb dann das Kind, das nicht weggemacht worden war. Wilma war jetzt bald zwei Jahre alt, und aus einem geheimnisvollen Grund war Wilma immer schmutzig. Leo haßte Schmutz; Leo war immer sauber, gemäß seinen Wappengerüchen, dem Geruch des Rasierwassers und des Bohnerwachses. Rotgebürstete Hände hatte er, polierte Fingernägel, und seine Waffe war neben der Knipszange Ȭ die Nagelfeile, ein albern langes Stück geriffelten, gerauhten Blechs, mit dem er die kleine Wilma auf die Finger schlug. Jeden Morgen machte Heinrich Wasser warm, um Wilma zu waschen, er wechselte ihre Wäsche, sooft es ging, aber aus einem geheimnisvollen Grund sah Wilma immer schmutzig, immer schmierig aus, obwohl sie so hübsch und klug war. Es war zum Verzweifeln. Wenn Leo Spätschicht hatte, war dieser mittags für eine Stunde mit Wilma allein, weil die Mutter jetzt schon um halb eins in die
Bäckerei ging, und von dem Tage an, da Wilma zum ersten Male mit Leo allein gewesen war, schrie sie, wenn sie ihn nur sah. Entsetzliches Gebrüll aber stieß sie aus, wenn er drohend seine schwere Nickelknipszange in die Höhe hob, um sie einzuschüchtern, dann brüllte sie und kroch auf Heinrich zu, klammerte sich an ihn und war erst zu beruhigen, wenn Leo weggegangen war und er ihr oft, oft zugeflüstert hatte: »Leo weg, Leo weg.« Aber auch dann weinte sie noch, und Heinrichs Hände wurden naß von ihren Tränen. Nachmittags war er meistens mit ihr allein, und dann war sie ruhig und weinte nie, und schön war es an den Abenden, wenn die Mutter mit Leo tanzen ging: Dann sagte er Martin Bescheid, der nur kommen wollte, wenn Leo weg war Ȭ er hatte solche Angst vor Leo wie Wilma Ȭ, und sie badeten das Kind, gaben ihm zu essen und spielten mit ihm. Oder er konnte Wilma in Martins Garten abstellen, und sie konnten Fußball spielen. Abends lag er dann allein mit Wilma im Bett, murmelte die Abendgebete vor sich hin und dachte an die Onkel. Wilma, den Daumen im Mund, ganz sauber, schlief dann neben ihm, und er brachte sie erst in ihr Bettchen, wenn er selbst einschlafen wollte. Nebenan vereinigte sich die Mutter mit Leo; er hörte nichts, wußte aber, was geschah.
Wenn er überlegte, welcher Onkel ihm der liebste gewesen war, schwankte er
immer zwischen Karl und Gert. Karl war freundlich und pedantisch, er war der »NeuesȬLeben«ȬKarl, der »Nachschlag«ȬKarl, der Karl, dessen Wappengeruch der Geruch der Suppe für städtische Angestellte war, Karl, von dem die Segeltucnhülle für sein Kochgeschirr übriggeblieben war, die Wilma jetzt als Spielzeugtasche benutzte. Karl hatte aber auch schenken können wie Gert, der abends lachend nach Hause kam und sein ganzes Handwerkszeug in einem Marmeladeneimer mit sich trug. Kellen und Spachteln und die Fugenmesser, eine Wasserwaage und seinen Tagesverdienst, den er sich in Naturalien auszahlen ließ, hatte er großzügig auf den Tisch gelegt: Margarine und Brot, Tabak, Fleisch und Mehl, und einige Male das, was damals so kostbar, so selten gewesen war, etwas kleines Weißes, wunderbar Schmeckendes: ein Ei. Gelacht hatte die Mutter am meisten in der GertȬZeit. Gert war jung gewesen, dunkelhaarig, und hatte das MenschȬärgereȬdichȬnichtȬ und das FangȬdenȬHutȬSpiel nicht verachtet.
Bett lachte, wo sie mit Gert schlief, und dieses Lachen hatte ihm die Mutter
nicht unsympathisch gemacht wie das Kichern, das sie bei Karl ausstieß. Gert war in der Erinnerung so gut, daß selbst die Vorstellung, daß er sich mit der Mutter vereinigt hatte, ihn nicht abstoßend machte. Gert trug noch eine dunkelgrüne Stelle am Ärmel seines Waffenrockes, wo der ObergefreitenȬ winkel gesessen hatte, und abends hatte Gert noch einen Handel mit Gips und Zement betrieben, die er pfundweise verkaufte; er schöpfte Gips und Zement aus Papiersäcken, wie man jetzt Mehl aus Säcken schöpfte, pfundweise mit Kellen. Karl war ganz anders gewesen, aber auch nett. Karl war der einzige Onkel, der in die Kirche gegangen war. Karl hatte ihn mitgenommen, ihm die Liturgie erklärt, die Gebete, und Karl rückte abends nach dem Essen seine Brille zurecht und fing von seinem »neuen Leben« an. Karl ging zwar nie beichten, ging nie kommunizieren, aber Karl ging in die Kirche und wußte über alles Bescheid. Karl war nachdenklich, pedantisch, aber freundlich und konnte schenken, Bonbons und Spielzeug; und wenn er sagte, »wir werden ein neues Leben anfangen«, sagte er hinterher, »ich will wieder Ordnung in unser Leben bringen, Wilma, Ordnung«, und zu dieser Ordnung gehörte, daß Heinrich nicht Onkel, sondern Vater zu ihm sagen sollte. Erich Ȭ merkwürdig riechende Tees, in Essig getränkte lauwarme Tücher und das Feuerzeug, das immer noch funktionierte. Erich war in Sachsen geblieben. Gert war eines Tages nicht wiedergekommen, und sie erfuhren lange nichts von ihm, bis er nach Monaten aus München schrieb: »Ich mußte weg, ich komme nicht wieder. Es war schön da, ich schenke dir die Armbanduhr.« Der Geruch nassen Gipses blieb in der Erinnerung, und das Wort »Scheiße« blieb in Mutters Wortschatz von Gert zurück. Und Karl war weggegangen, weil »es« weggemacht worden war. Kein »neues Leben« hatte angefangen, und manchmal sah er jetzt Karl in der Kirche. Karl hatte eine Frau und ein Kind; sonntags ging er mit dem kleinen Jungen an der Hand spazieren, der so alt war wie Wilma. Aber Karl schien sich seiner, schien sich auch der Mutter nicht mehr zu erinnern, denn Karl grüßte nicht. Karl ging jetzt komȬ munizieren, und seit einiger Zeit betete Karl in der Kirche vor; oben von der Orgelempore herab hörte er die Stimme, die von »neuem Leben«, von
»Nachschlag« und von »Ordnung« gesprochen hatte, und er konnte es nicht
Mutter »es« weggemacht hatte, Karl wäre sonst sein Vater geworden.
Jemand, der im Hause wohnte, schrieb immer unten im Hausflur an die Wand mit Bleistift das Wort, das die Mutter zum Bäcker gesagt hatte. Aber niemand wußte genau, wer es war. Das Wort stand manchmal einen ganzen Tag lang da an der Wand, nie länger, dann kam der Tischlermeister, der unten die kleine Werkstatt betrieb, und kratzte das Wort mit einem Nagel aus, und unten auf dem Fliesenboden blieb die weiße Spur abgekratzten Gipses, weißlicher Staub, und an der Wand eine zerkratzte Stelle. Immer wieder schrieb der Unbekannte es hin, und der Tischlermeister kratzte es immer wieder aus; zwanzig abgekratzte Stellen waren schon in der Flurwand. Es war ein stummer Kampf, der auf beiden Seiten mit Hartnäckigkeit geführt wurde, immer stand auf einmal wieder das Wort da, und der Tischlermeister, der nach Kampfer roch, wie Erich gerochen hatte, kam mit seinem vierzölligen Nagel aus der Werkstatt und kratzte das Wort aus. Der Tischlermeister war nett. Besonders nett war er zu Wilma; samstags, wenn der Lehrling die Werkstatt auskehrte, mußte er alle Holzklötze aus dem Dreck heraussuchen, sie abwaschen und sie Wilma heraufbringen, auch besonders lange, besonders lockige Hobelspäne, und der Tischlermeister selbst brachte Wilma Bonbons mit, wenn er die Miete kassierte. War Leo gerade da, wenn der Tischlermeister kam, sagte der Tischlermeister: »Sie kriegȇ ich noch klein« Ȭ und Leo sagte: »Ich Sie auch.« Mehr sagten sie nicht.
Erst später Ȭ und er wunderte sich selbst, daß er nicht daran gedacht hatte Ȭ
fiel ihm ein, daß Leo es sein könnte, der das Wort an die Wand schrieb; es hätte zu Leo gepaßt, und es war ja ein LeoȬWort. Er beobachtete Leo, wenn er zur Schicht ging oder von der Schicht heimkam: Leo schrieb nichts an die Wand. Allerdings stand an den Tagen, wo er Leo beobachtete, auch das Wort nicht da. Das Wort stand nur da, wenn er Leo nicht hatte beobachten können. Es dauerte lange Ȭ schon war die halbe Wand zerkritzelt und zerkratzt. Eines Tages, als er aus der Schule gekommen war und das Wort unten im Flur entdeckt hatte, blickte er während des Essens auf Leos Bleistift. Leo hatte den Bleistift hinterm Ohr stecken lassen, und an diesem Bleistift war die Spitze platt, rauh, und ein winziger weißer Kranz war um die platte Spitze herum; so sahen Bleistifte aus, mit denen man an die
Wand schrieb. Leo also war es, der das Wort an die Wand schrieb.
Auch die Mutter schimpfte über den, der es an die Wand schrieb und sagte:
»Das brauchen die Kinder nicht gerade zu lesen«, und sie pflegte mit dunklerer Stimme hinzuzufügen: »Was Dreck ist, erfahren sie noch früh genug.«
Und doch hatte die Mutter selbst es zum Bäcker gesagt, im dunklen, warmen, nach süßlichem Teig riechenden Keller der Bäckerei.
Und Leo schrieb es weiter an die Wand, der Tischlermeister kratzte es mit dem Nagel aus, und Heinrich fand nicht den Mut, dem Tischlermeister zu sagen, was er herausbekommen hatte. Später würde er es sagen, mit Onkel Albert über Verschiedenes reden.
Im Dunkeln noch, wenn er abends im Bett lag, konnte er das Bild des Vaters betrachten, das von der Straßenlaterne beleuchtet wurde, leise, ganz leise zitternde Fotografie, die von den Erschütterungen der Autos so schwankte und besonders heftig schwankte, wenn der Omnibus 34 oder ein Lastzug vorbeifuhr.
Vom Vater existierte nicht mehr viel; das Foto an der Wand und ein Heft, das die Mutter hartnäckig aufbewahrte zwischen Romanheften und Illustrierten, eine verschmutzte, dünne, gelbliche Broschüre: »Was der Autoschlosser bei der Gehilfenprüfung wissen muß.« Zwischen den Blättern der Broschüren, zusammengefaltet, verschlissen, aber noch gut zu erkennen, lag ein Farbendruck, der Christus und die Jünger beim Abendmahl zeigte Ȭ der gleiche Druck, den auch er bekommen hatte und der fast genau die gleiche Beschriftung trug: »Heinrich Brielach empfing das Sakrament der heiligen Kommunion zum ersten Male in der Pfarrkirche St. Anna am Weißen Sonntag 1930.« Nur stand bei ihm »Pfarrkirche St. Paul« und »Weißer Sonntag 1952«.
Mutters Vater war in Sachsen geblieben. Er schrieb von einer schmalen Rente
und immer wieder auf Postkarten den Satz: »Habt ihr denn kein Zimmer für mich, daß ich in die alte Heimat zurück kann?« Und die Mutter schickte ihm Tabak und Margarine und schrieb: »Es ist wirklich schlecht mit Zimmern, es ist so teuer.« Mutters Mutter war in Sachsen gestorben, und der Vater des Vaters lag hier auf dem Friedhof, angefaultes Holzkreuz, vor
dem sie am Allerseelentag Blumen niederlegten und ein buntes Licht
anzündeten. Vaters Mutter Ȭ die Oma Ȭ hatte Streit mit der Mutter, sie kam nur am zweiten Weihnachtstag, brachte ihm Geschenke und Wilma ostentativ nichts, und sie sprach fast so, wie Karl gesprochen hatte: »OrdnungȬneues LebenȬes nimmt kein gutes Ende.« Und einer ihrer Sätze hieß: »Wenn mein armer Junge das hätte erleben müssen.«
Aber sie kam selten, und sie war nicht gut, weil sie Wilma weder ansah noch
Wilma etwas mitbrachte. Sie sagte immer zu ihm: »Besuch mich doch mal.« Aber er war nur einmal bei ihr gewesen, sauber war es bei ihr, so sauber wie Leo war: Es roch nach Bohnerwachs, er bekam Kuchen und Kakao und Geld für die Straßenbahn, aber dann fing sie an, ihn auszufragen, und er sagte nichts und fuhr nie mehr zu ihr, denn auch sie sprach, wie die Leute sprachen, die unter der Eisdecke sprachen: keusche Seele und reines Herz Ȭ und zwischendurch fragte sie nach Leo, nach Karl und Gert und murmelte kopfschüttelnd: »Keine Ordnung Ȭ wenn mein armer Junge, dein Vater, es noch hätte erleben müssen«, und sie zeigte ihm Bilder, wo der Vater so alt war wie er selbst, von der Erstkommunion und Bilder vom Vater im SchlosȬ seranzug. Aber er fuhr nie mehr zu ihr, weil er Wilma nicht mitbringen durfte.
7
Wenn Nella Besuch mitbrachte, rief sie Albert, weil er ihr helfen mußte, den schlafenden Jungen aus ihrem Zimmer in seins zu tragen. Das Kind war schwer im Schlaf, murmelte im Traum vor sich hin, und sie fürchteten immer, er könne wach werden, aber meistens wühlte er sich schnell in Alberts Bett zurecht und schlief weiter. Nella hatte oft Besuch, und meistens mußte Albert zweimal in der Woche den Jungen in sein Zimmer bringen. Er mußte dann seine Arbeit liegenlassen, weil er, wenn der Junge im Zimmer schlief, nicht arbeiten und rauchen wollte, und es ergab sich von selbst, daß er mit zu Nella hinüberging und sich zu ihren Besuchern setzte. Er hatte ein paarmal versucht, mit seiner Arbeit in das leerstehende Zimmer oben neben Glum zu gehen, aber das Zimmer war ihm fremd, und er hatte tausend Kleinigkeiten bei der Arbeit nötig, die er ohne lange Überlegung mit einem Handgriff aus den
Schubladen seines Arbeitstisches zog:
Scheren und verschiedene Klebstoffe, Stifte und Pinsel, und es schien ihm, als lohnte es sich nicht, oben in dem leerstehenden Zimmer ein Atelier einzurichten. Auch das Wohnzimmer unten, das nie benutzt wurde, eignete sich nicht zum Arbeiten, eine orangefarbene Couch, orangefarbene Sessel und ein Teppich von gleicher Farbe, an den Wänden die Bilder eines Malers, den Nellas Vater gefördert hatte, reizlose Präzisionsarbeit, und der ganze traurige Mief eines Raumes, der seit Jahren nicht mehr benutzt, aber regelmäßig gesäubert wurde. Der Junge weigerte sich beharrlich, eins der leerstehenden Zimmer zu beziehen, und so blieb Albert nichts anderes übrig, als zu Nella zu gehen und sich zu ihren Leuten zu setzen. Er war immer ärgerlich und langweilte sich dabei. Manchmal ging er weg, um irgendwo zu saufen, dann tat ihm Nella leid, wenn er zurückkam und sie allein zwischen vollen Aschenbechern und leeren Flaschen und Tellern mit Butterbrotresten sitzen sah.
Meistens waren es irgendwelche Snobs, die Nella auf Reisen oder Tagungen kennengelernt oder die sich ihr bei Vorträgen vorgestellt hatten, und es widerte ihn an, dem stundenlangen Geschwätz über Kunst zuzuhören. Er nahm nie am Gespräch teil, trank Wein und Tee, und es wurde ihm meist ein wenig übel, wenn man anfing, Rais Gedichte zu zitieren, und von Nella durch ein Lächeln ermuntert, gab er später widerwillig Auskünfte über Rai. Um seine Trauer über den Zeitverlust zu vergessen, trank er viel Wein, und meistens waren auch ein paar hübsche Mädchen dabei, und er sah hübsche Mädchen gern, auch wenn sie versnobt waren. Er beobachtete alles genau, stand hin und wieder auf, um eine Flasche zu entkorken, oder fuhr, wenn es spät wurde, mit seinem Auto weg, um neuen Wein, neues Gebäck und Zigaretten zu holen. Was ihn dort hielt, war der Junge, der in seinem Bett schlief Ȭ das Kind wurde manchmal mitten in der Nacht wach, erschrak dann, wenn fremde Gesichter sich über sein Bett beugten, und es kam vor, daß Nellas Mutter spät noch eine Szene machte. Wenn Blut im Urin nicht fällig war, ersann sie anderes, das aus der Reihe ihrer Gewohnheiten fiel. Sie konnte wochenlang ruhig in ihrem Zimmer hocken mit ihrer Flasche Rotwein, dem Teller voll Fleischbroten und ihren knallroten TomahawkȬPackungen, in alten Briefen wühlen oder den Stand ihres Vermögens prüfen, oder sie
chern, Lesebüchern aus den Jahren 1896Ȭ1900 und der alten Schulbibel, die
noch Spuren von Kolorierungen zeigte, die sie als zehnjähriges Bauernmädchen angebracht hatte, das blutbefleckte Gewand des ägyptischen Josef, mit einem Karmesinstift vor mehr als fünfzig Jahren wild angemalt Ȭ oder die senffarbenen Löwen, die Daniel verschonten und schlafend um ihn herumlagen.
Wochenlang war sie ruhig, aber sie konnte plötzlich nach einer Szene
verlangen. Nachts um ein Uhr hatte sie plötzlich Lust, sich einen Salat zu machen, und dann kam sie, mit dem schwarzen, blaugeblümten Morgenrock bekleidet, in Nellas Zimmer, die leere Essigflasche in der Hand, und brüllte in der Tür: »Sauerei Ȭ die Flasche ist wieder leer, und ich muß, ich muß einen Salat haben.« Es war nicht ganz einfach, mitten in der Nacht Essig aufzutreiben, aber Albert hatte für alle Fälle mit der Büffetdame des Bahnhofsrestaurants ein freundschaftliches Abkommen getroffen, und im Notfall konnte er dort selbst die ausgefallensten Sachen bekommen. Wenn Bolda nachts noch herunterkam und Nellas Mutter noch wach war und in der Stimmung, eine Szene zu machen, dann brach sie Streit vom Zaun, brüllte Bolda an: »Du ausgebüchste Nonne Ȭ du zweifache Witwe« und zählte die Untaten von Boldas Vater auf, der offenbar ein Wilderer und Schmuggler gewesen war, aber schon seit fünfundfünfzig Jahren auf dem Friedhof eines winzigen Eifeldorfes ruhte. Wenn sie nicht in Stimmung war, eine Szene zu machen, ließ sie Bolda ungehindert passieren oder fing einen friedlichen Plausch mit ihr an. Genausogut konnte sie plötzlich in Nellas Zimmer kommen und brüllen:
»Ist die Hurerei wieder im Gange? Dein armer Mann, der in Rußlands Erde schläft.«
Sie ließ sich dann nur von ihm oder von Glum beruhigen, und es war besser, wenn er im Hause blieb, denn Nella hatte Angst vor ihrer Mutter. So hockte Albert an zwei von sieben Tagen der Woche mit Nellas Besuch zusammen, bewachte den Schlaf des Jungen, hielt sich als eine Art Feuerwehr bereit, um im Notfall Nellas Mutter zu beruhigen.
Er machte sich nichts daraus, später, wenn alle gingen, als Taxi mißbraucht zu
werden; er fuhr Nellas Gäste an die Straßenbahnhaltestelle oder, wenn es sehr spät wurde, ans Depot, wo auch während der Nacht stündlich eine Bahn
daran, lange auszubleiben, denn er hoffte immer, Nella würde im Bett sein,
wenn er zurückkam. Es war schön, allein durch die Nacht zu fahren, die Straßen waren leer, die Gärten lagen in tiefem Dunkel, und er beobachtete den Zauber, den sein Scheinwerfer beschwor, wilde, harte und sehr schwarze Schatten, und das gelblichȬgrüne Gaslicht der Straßenlaternen; eisig kühles Licht, das er liebte und das auch im Sommer den Eindruck großer Kälte hervorrief. Gärten und Parks waren mit diesem grünlichȬgelben Licht überstreut und standen, auch wenn die Bäume blühten, in starrer, kalter Leblosigkeit. Oft fuhr er auch ein paar Kilometer aus der Stadt hinaus, durch schlafende Dörfer bis an die Einfahrt der Autobahn, fuhr dann ein kurzes Stück in sehr hoher Geschwindigkeit und benutzte die nächste Abzweigung, um in die Stadt zurückzukehren, und jedesmal spürte er wieder die tiefe Erregung, wenn ein Mensch im Licht seines Scheinwerfers auftauchte, meistens waren es Huren, die sich genau an die Stelle postiert hatten, wo das Licht der Scheinwerfer hinfiel, wenn die Autofahrer nach den Kurven das Fernlicht einschalteten: einsame, leblose, buntbekleidete Puppen, die nicht einmal lächelten, wenn jemand nahe bei ihnen vorbeikam: helle Beine vor dunklem Hintergrund, von scharfem Licht bestrahlt. Sie erinnerten Albert immer an Gallionsfiguren, es schien, als stünden sie auf dem Bug versunkener Schiffe; immer wieder stach sein Scheinwerfer sie aus dem Dunkel heraus, sobald er das Licht aufdrehte, und er bewunderte die genau richtige Wahl ihres Standortes, aber noch nie hatte er gesehen, daß ein Auto hielt und eins der Mädchen einstieg.
Wo die Brücke aufhörte, war in die Rampe hinein eine kleine Kneipe gebaut, die die ganze Nacht über offenhielt. Dort trank er ein Glas Bier und einen Schnaps, um seine Heimkehr hinauszuzögern. Die Wirtin kannte ihn schon, denn Nella hatte oft Besuch, und jedesmal brachte er ihre Gäste weg, um nicht mit Nella allein zu sein.
In dieser Kneipe blieb er oft lange sitzen und dachte an die Dinge, an die er durch Nellas Gäste, ohne es zu wollen, erinnert worden war. An den Tischen saßen meistens ein paar knobelnde Matrosen von den Rheinschiffen, aus dem Radio kamen leise fremde Stimmen, und die kleine, dunkelhaarige Wirtin saß strickend neben dem Ofen. Sie erzählte ihm immer, für wen sie gerade
sohn, rostbraune Handschuhe für ihre Tochter; aber meistens strickte sie für ihre Enkel hübsche kleine Höschen, für die sie selbst die Muster erfand, und oft fragte sie ihn um Rat, und er hatte ihr manchen Tip gegeben. Zuletzt hatte er ihr den Rat gegeben, in einen hellgelben Rock für ihre vierzehnjährige Enkeltochter dunkelgrüne Flaschen mit verschiedenfarbenen Etiketts hineinzustricken. Er malte ihr mit Buntstiften, die er immer bei sich trug, das Muster auf weißes Einwickelpapier, in das sie den Matrosen kalte Koteletts und Bouletten verpackte. Manchmal, wenn ihm alle die Dinge einfielen, an die er durch Nellas Besucher erinnert worden war, wurde es drei, vier Uhr morgens. Vor dem Krieg war er Korrespondent einer kleinen deutschen Zeitung in London gewesen, aber die Zeitung hatte ihn rausgeschmissen, und er war Ȭ nach Leens Tod Ȭ auf Nellas Drängen hin nach Deutschland zurückgekehrt, und Nellas Vater hatte ihm eine Stellung in seiner Marmeladenfabrik gegeben, damit er untertauchen konnte. Hier hatte er bis zum Ausbruch des Krieges mit Rai zusammen eine kleine statistische Abteilung aufgezogen, und sie hatten ihr Gehalt für Spielereien bezogen, die weniger der Fabrik nützlich waren als ihrer beider Legitimation dienten: Sie konnten jederzeit nachweisen, daß sie eine vernünftige unpolitische Arbeit verrichteten, daß sie in den sogenannten Arbeitsprozeß eingegliedert waren, und in ihrem Arbeitszimmer sah es jederzeit wüst genug aus, um den Eindruck heftiger Beschäftigung zu erwecken. Auf ihren Zeichenbrettern waren Skizzen mit Reißbrettstiften befestigt, Tuben lagen herum und Pinsel, Tuscheflaschen standen geöffnet auf Borden, und jede Woche kam aus der Verkaufsabteilung ein Bericht mit Zahlenangaben, die sie in ihren Tabellen zu verarbeiten hatten, Ziffernkolonnen nach den Provinzen Deutschlands geordnet, die sich in winzige Marmeladeneimerchen auf bunten Landkarten verwandelten.
Später erfanden sie für neue Marmeladensorten neue Namen und ordneten ihr
Zahlenmaterial so eifrig, daß sie jederzeit Auskunft geben konnten, wo wieviel von welcher Marmelade gegessen wurde und gegessen worden war. Sie krönten ihren Zynismus, indem sie eine Denkschrift verfaßten, die sie
»Entwicklung und Verbreitung von Holsteges aromatischer Konfitüre«
nannten und zum 25jährigen Bestehen der Firma im Jahre 1938 herausgaben,
versehenes Heft, das an alle Kunden gratis verschickt wurde. Albert entwarf
neue Plakate, Rai verfaßte neue Slogans, und die Abende verbrachten sie mit Nella und den wenigen Freunden, die sie im Jahre 1938 noch haben konnten. Es war ihnen nie ganz wohl in dieser Zeit, und an den Abenden brach ihre unterdrückte Gereiztheit oft aus, besonders wenn Pater Willibrord sie besuchȬ te. Rai haßte Willibrord, denselben, der jetzt den Kult, der mit Rai getrieben wurde, heftig förderte. Es endete meistens damit, daß sie Willibrord so heftig beleidigten, daß er ging, und wenn er gegangen war, betranken sie sich, besprachen die Möglichkeit auszuwandern, und am andern Morgen kamen sie verspätet mit Kopfschmerzen in ihr Büro und zerrissen oft in plötzlicher Wut alle Zeichnungen und Tabellen.
Aber Tage später fingen sie wieder an zu zeichnen, erfanden neue Symbole für Marmeladenverbraucher, neue Kategorien und Farbnuancen, um die einzelnen Sorten graphisch zu charakterisieren, und ihr letztes Werk, bevor sie in den Krieg mußten, war wiederum eine historische Denkschrift, in der Rai zu beweisen unternahm, daß Steinzeitbewohner, Römer, Griechen, PhöniȬ zier, Juden, Inkas und Germanen schon die Segnungen der Marmelade genossen hatten. An diese Denkschrift verschwendete Rai seine ganze Phantasie und Albert sein ganzes Zeichentalent, und sie wurde ein Meisterwerk, das dem Unternehmen zahlreiche Kunden zuführte. Aber gerade diese Tatsache erwies sich als überflüssig, denn es kam ein neuer Kunde, der ohne Werbung Marmelade kaufte: der Krieg.
Im Krieg sahen sie dann überall an den Straßenrändern, wo deutsche Trosse
geparkt hatten, die Marmeladeneimer aus der Fabrik, für die sie gearbeitet hatten: Etikette auf den Blecheimern, die Albert entworfen, und Slogans, die Rai verfaßt hatte: Französische Kinder spielten Fußball mit diesen Eimern, und für russische Frauen bedeuteten sie eine Kostbarkeit, und wenn die EtiȬ kette längst abgelöst oder zerrissen waren, die Eimer verrostet oder verbeult, sie erkannten sie immer noch am eingestanzten Blechmonogramm von Rais Schwiegervater, E. H., Edmund Holstege. Selbst im Dunkeln, wenn sie in muffigen Quartieren lagen und auf polternde Blecheimer traten, blieb ihnen diese Bewegung nicht erspart: Man konnte es fühlen, ertasten an der Stelle, wo der Henkel in den Eimer eingelassen war, das erhabene E. H. und die
Die Siegeszüge der Armee waren nicht nur durch Kartuschen, zerschossene Häuser und verrecktes Vieh, sondern auch durch Marmeladeneimer gekennzeichnet. In Polen und Frankreich, Dänemark und Norwegen und auf dem Balkan war auf den Marmeladeneimern ein Spruch zu lesen, den Rai verfaßt hatte: »Dumm ist, wer noch einmacht, Holstege macht für Dich ein.« Die Worte »Dumm ist, wer noch einmacht« waren dick und rot gedruckt Ȭ das andere war weniger deutlich zu lesen. Dieser Slogan war das Ergebnis einer langen Konferenz mit der Fabrikleitung gewesen, nach der sie einen Feldzug gegen das Einmachen starteten. Aber dieser Feldzug war dann abgeblasen worden, weil Parteistellen intervenierten, die ihrerseits das Einmachen als eine gute deutsche Hausfrauentugend progagierten. Doch die Etikette und Plakate waren schon gedruckt gewesen Ȭ und im Krieg kam es nicht mehr so genau drauf an, und sie wurden aufgeklebt, später bis tief nach Rußland hineingeschleppt. Albert und Rai hatten das erste Kriegsjahr getrennt voneinander in verschiedenen Truppenteilen und auf verschiedenen SchauȬ plätzen erlebt, aber auch getrennt voneinander erlebten sie das gleiche, in den Vorstädten von Warschau lagen sie ebenso wie an der Kathedrale von Amiens: deutsche Marmeladeneimer. Außerdem bekamen sie noch Päckchen von Nellas Mutter geschickt, Päckchen, die kleine, aus verchromten Blech hergestellte Miniatureimerchen mit Marmelade enthielten, Werbegeschenke, die nach dem Kauf von drei Eimern Marmelade zugegeben wurden Ȭ und Nellas Mutter schrieb überflüssigerweise noch dazu, wie gut das Geschäft gehe...
Es war niemand mehr in der Kneipe, er nippte an seinem Bier und schob das Glas, weil das Bier so schal schmeckte, beiseite. Dann musterte er die Reihe der Flaschen auf dem Bord und sagte, ohne den Kopf zu heben: »Bitte, geben Sie mir einen Schwarzwälder Kirsch« Ȭ aber die Finger der Frau bewegten sich nicht mehr, Wollknäuel und Nadeln waren auf den Boden geglitten, und als er den Kopf hob, sah er, daß die Wirtin eingeschlafen war, im Radio sang leise eine Frau ein südamerikanisches Lied. Er stand auf, ging hinter die Theke und goß sich selbst einen Kirsch ein, dann hob er das Wollknäuel und die Nadeln auf und sah auf die Uhr: Es war drei Uhr morgens. Er trank den Schnaps
langsam, fast tropfenweise und steckte sich eine Pfeife dazu an.
Nella würde nicht im Bett sein, sie war nie im Bett, wenn er zurückkam, und sie würde alles hinnehmen, was er ihr sagte. Rais Haß auf Willibrord und Rais Zynismus und seinen Snobismus und die Tatsache, daß er fünf Jahre vor seinem Tod kein einziges Gedicht, sondern nur noch Slogans geschrieben hatte, und daß sie sich schuldig mache an der Entstehung einer falschen Legende.
Er trank den Kirsch aus und weckte die Wirtin, indem er ihr leise auf die Schulter klopfte, sie war sofort ganz wach, lächelte und sagte: »Na, daß mir das passieren muß, wenn Sie nicht dagewesen wären, hätte man mich ausplündern können.« Sie stand auf, drehte das Radio aus. Albert legte das Geld auf die Theke, ging nach draußen und wartete auf die Wirtin, die das Ziehharmonikagitter vor die Tür zog und abschloß. »Kommen Sie«, sagte er, »ich bring Sie nach Hause.« »Das ist fein«, sagte sie.
Um diese Zeit waren wenig Leute auf der Straße, nur die großen Lastzüge mit Gemüse fuhren in Richtung der Markthalle. Er machte der Wirtin wegen einen kleinen Umweg, setzte sie ab und fuhr Ȭ immer noch langsam Ȭ nach Hause. Nella war noch nicht im Bett, sie hatte nicht einmal ihr Zimmer aufgeräumt: Gläser standen herum, Tassen und Teller mit Butterbrotresten, angeknabbertes Gebäck auf Glasschalen, leere Zigarettenschachteln, und nicht einmal die Aschenbecher waren geleert, Flaschen standen auf dem Tisch, und die Korken lagen herum.
Nella saß im Sessel, rauchte und stierte vor sich hin: Oft kam es ihm so vor, als säße sie schon ewig da und würde ewig dort sitzen, und er dachte das Wort »Ewig« in seiner vollen Kraft und Bedeutung: im dunstigen Zimmer, zurückgelehnt in den grünen Sessel, saß sie da, rauchte und starrte vor sich hin. Sie hatte Kaffee gekocht und die Kanne unter der verschlissenen Mütze warm gestellt, und als sie die Mütze abnahm, erschien ihm das helle und frische Grün der Kaffeekanne als das einzig Frische im Zimmer, denn auch die Blumen, die die Gäste mitgebracht hatten, standen im Zigarettendunst oder lagen noch im Papier in der Diele auf dem Tisch herum. Früher war ihm Nellas Schlampigkeit immer reizvoll erschienen, aber seitdem er mit ihr zusammen wohnte, haßte er sie. Da die Kanne auf dem Tisch stand, wußte er, daß es eine lange Nacht werden würde. Er haßte den
Kaffee, haßte Nella, die Gäste und die sinnlos verschwätzten Nächte, aber
sobald Nella lächelte, vergaß er seinen Haß: Welche Gewalt wohnte in dem einzigen Muskel, die jene unnachahmliche Verschiebung zustande brachte. Und obwohl er wußte, daß sie sich dieses Lächelns mechanisch bediente, fiel er wieder darauf herein, weil er jedesmal wieder glaubte, daß es ihm wirklich zugedacht war. Er setzte sich und redete automatisch Sätze daher, die er schon tausendmal gesagt hatte um diese Zeit, bei dieser Gelegenheit. Nella liebte es, zu dieser Stunde lange Monologe über ihr verkorkstes Leben zu halten, ihm Bekenntnisse zu machen oder ihm auszumalen, wie alles hätte kommen können, wenn Rai nicht gefallen wäre. Gewaltsam versuchte sie, die Zeit zurückzudrehen, alles, was seit zehn Jahren geschehen war, wegzuschieben und ihn in ihren Traum hineinzuziehen. Gegen halb vier stand sie dann auf, um eine zweite Kanne Kaffee zu kochen und um nicht allein zu sein in diesem Zimmer, das er schon zwanzig Jahre kannte: In diesem Zimmer voller Zigarettenrauch und Erinnerungen an Rai räumte er Gläser und schmutzige Teller zusammen, kippte die Aschenbecher aus, riß den grünen Vorhang beiseite und öffnete das Fenster. Dann floh er zu Nella in die Küche, nahm Vasen aus den Schiebeschränken, füllte sie mit Wasser und stellte die Blumen hinein, und später stand er neben Nella, die das Brodeln des Wassers abwartete, am Gasherd, aß kaltes Fleisch oder ein Butterbrot oder einen ihrer wohlschmeckenden Salate, die sie immer im Eisschrank bereithielt.
Das war die Stunde, die sie herbeisehnte, um derentwillen sie wahrscheinlich
den ganzen Rummel veranstaltet hatte, denn genauso war es schon vor zwanzig Jahren gewesen: Hier hatte er neben Nella gestanden, ihr beim Kaffeekochen zugesehen, ihre Salate gekostet, nachts um drei oder vier Uhr, und hatte den Spruch betrachtet, der aus schwarzen Platten in die weißen hineinzementiert war: Die Liebe geht durch den Magen. Rai hatte immer in Nellas Zimmer gesessen und gedöst, und auch damals waren die Gäste bis spät in die Nacht geblieben: Politisches Geschwätz hatte diese Nächte erfüllt, Streit mit Schurbigel, der sie alle aufforderte, in die SA einzutreten und die SA zu christianisieren: Worte wie »Hefe«, Worte wie »Sauerteig«, Sätze wie:
»mit christlichem Gedankengut den Nationalsozialismus durchdringen« Ȭ
mals waren hübsche Mädchen dabeigewesen Ȭ, aber die meisten waren tot oder während des Krieges in fremde Städte und Gegenden verzogen, und zwei von den hübschen Mädchen hatten Nazis geheiratet und sich unter Eichen trauen lassen. Später hatten sie Streit mit fast allen bekommen. Sie hatten die Nächte, über Landkarten gebeugt, verbracht, die sie aus dem Büro mitbrachten, aber es war immer spät geworden, und auch damals war um zwei Uhr die erste, gegen drei die zweite Kanne Kaffee fällig gewesen. Zum Glück war wenigstens die Kanne, in der Nella jetzt den Kaffee aufgoß, eine andere als damals, und es gab vieles, was unerbittlich daran erinnerte, daß die Zeit eine andere war. Sein Herz klopfte heftig, wenn er mitten in der Nacht in sein Zimmer ging, um den Jungen im Schlaf zu beobachten: Martin war groß geworden, schnell und endgültig schien ihm, und es hatte etwas Beängstigendes für ihn, den großen elfjährigen Jungen in seinem Bett liegen zu sehen: blond und hübsch, Nella sehr ähnlich, lag das Kind völlig entspannt da. Durch das offene Fenster kamen schon morgendliche Geräusche: das ferne Rumpeln der Straßenbahnen, das Zwitschern der Vögel, und die blaue, tintige Nacht war schon wässerig geworden hinter der Pappelreihe, die den Garten begrenzte Ȭ und oben im Haus, in dem Zimmer, das jetzt Glum bewohnte, waren nicht mehr, längst nicht mehr, die schweren und regelmäßigen Schritte von Nellas Vater zu hören, Schritte eines Bauern, der zu lange hinter dem Pflug hergegangen war, um seinen Gang noch verändern zu können.
Gegenwart und Vergangenheit schoben sich übereinander wie Scheiben, die den Punkt suchen, wo sie kongruent werden: Die eine rotierte sauber und hatte den Drehpunkt in der Mitte, Vergangenheit, die er genau zu überblicken glaubte, die Gegenwart aber drehte sich heftiger als die Vergangenheit, eierte über diese hin, aus einem anderen Drehpunkt gesteuert, und es nützte ihm nichts, daß es das Gesicht des Kindes gab, seinen Atem auf der Hand und Glums gutes, rundes Gesicht. Es nützte ihm nichts, auf Nellas Gesicht die Spuren der vergangenen zwanzig Jahre zu sehen, sie genau zu sehen: Fältchen um die Augen herum und Spuren weißen, ältlichen Fetts an ihrem Hals, die Lippen, die vom Rauchen unzähliger Zigaretten spröde geworden waren, und die harten gröberen
nützte ihm nichts: Er fiel auf ihr Lächeln herein, automatisch ausgelöster
Zauber, der die Zeit auflöste, das Kind hinten im Bett als ein Gespenst erscheinen ließ; und zwischen die eiernde Gegenwart und die scheinbar so sauber rotierende Vergangenheit schob sich eine dritte, grellgelb dahinsausende Scheibe: die Zeit, die nie gewesen, das Leben, das nie gelebt worden war: Nellas Traum. Sie zwang ihn hinein, wenn auch nur für die wenigen Minuten hier nachts in der Küche, wenn sie Kaffee kochte und Butterbrote zurechtmachte, die auf dem Teller vertrocknen würden: Kaffeekanne, Butterbrote, Lächeln Ȭ und das grau und milchig durchschossene Morgenlicht: Das waren nur Requisiten und Kulissen für Nellas quälerischen Traum, den Traum, das Leben zu leben, das nie gelebt worden war und nie würde zu leben sein: das Leben mit Rai.
»Oh«, murmelte er, »es wird dir noch gelingen, mich verrückt zu machen.«
Er schloß die Augen, um die verwirrende Rotation nicht mehr zu sehen: wirres Geflimmer dreier Scheiben, die nie übereinander liegen würden, tödliche Inkongruenz, in der es keinen Ruhepunkt gab. Kaffee, den niemand trinken, Butterbrote, die niemand essen sollte Ȭ Requisiten eines mörderischen Spiels, in das er hineingezogen wurde als einziger und wichtigster Statist Ȭ und doch tröstlich zu wissen, daß Bolda sich den Kaffee aufwärmen, Glum die Butterbrote einpacken und mit zur Arbeit nehmen würde. »Geh nur«, sagte Nella müde, als sie den grünen Deckel auf die Kaffeekanne legte. Er schüttelte den Kopf.
»Warum«, sagte er, »versuchen wir es uns nicht leichter zu machen?«
»Heiraten«, sagte sie, »wir beide? Glaubst du, daß es dann leichter sein würde?« »Warum nicht?« sagte er.
»Geh schlafen«, sagte sie, »ich will dich nicht quälen.« Er ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus und ging leise durch die Diele ins Badezimmer. Er zündete Gas an, ließ das Wasser laufen und legte die Brause so, daß das Wasser, ohne Geräusch zu machen, in die Wanne fließen konnte.
Er blieb lange stehen und sah blöde auf das Wasser hinunter, das bläulichȬhell, in leichten Strudeln aus der Brause vom Boden der Wanne her nach oben stieg: Dabei lauschte er gespannt nach
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draußen und hörte, daß Nella in ihr Zimmer ging: kurz danach hörte er sie
weinen. Sie hatte die Tür zu ihrem Zimmer offengelassen, damit er das Weinen auch höre. Im Hause war es still, und es wurde kühl. Draußen dämmerte es schon, und er warf, in Gedanken versunken, seinen Zigarettenstummel in das Badewasser und beobachtete, halb blöde vor Müdigkeit, wie der Stummel sich auflöste, schwärzlicher Dreck nach unten sank: verhärtete Asche — wie die hellen, gelben Tabakflusen erst in dichter Kolonie, dann sich auflösend, auf der Oberfläche schwammen, jedes schon ein Wölkchen von gelblicher Farbe im Wasser hinterlassend. Das Zigarettenpapier wurde dunkler, und er konnte gegen diesen dunkelgrauen Hintergrund deutlich lesen Tomahawk. Der Einfachheit halber rauchte er, wenn er Zigaretten rauchte, Großmutters Marke, um auf ihre Überfälle vorbereitet zu sein. Die gelbgefärbte Wasserwolke hatte jetzt schon das Ausmaß eines Schwammes angenommen, und das Wasser, das aus der Brause nach oben sprudelte, hielt die Kolonie der sich immer mehr auflösenden, immer heftiger ausfärbenden Tabakflusen von sich ab, und unten auf dem sauberen, blauen Boden der Wanne bewegten sich die schwarzen, verhärteten Aschepartikelchen zu einem geheimnisvollen Sog langsam auf den Abfluß zu. Nella weinte immer noch, und die Tür stand offen, und er schaltete plötzlich das Gas aus, drehte das Wasser ab und zog an der Nickelkette den Stöpsel aus der Wanne und sah die gelbliche TaȬ bakwolke im Strudel verschwinden.
Er knipste das Licht aus und ging zu Nella hinüber: Sie rauchte und heulte.
Er blieb in der Tür stehen, und er wunderte sich selbst, wie hart seine Stimme war, als er rief: »Was willst du eigentlich?«
»Setz dich zu mir«, sagte sie, »komm.« Ihr Lächeln mißlang, und es rührte ihn, das zu sehen; er hatte es nur selten gesehen. Er setzte sich und nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die sie ihm hinhielt, und sie fand das Lächeln wieder und ließ es ablaufen, es schien, als drückte jemand heimlich auf einen Knopf Ȭ wie ein Fotograf, der einen Blitzlichtautomaten bedient, bediente sie sich ihres Lächelns Ȭ sie war wegen ihres Lächelns bekannt, aber jetzt ermüdete es ihn, wie ihn auch der Anblick ihrer zarten, weißen Hände ermüdete, die ebenso bekannt waren wie ihr Lächeln, und sie scheute nicht vor den
In der Badewanne gurgelte der Rest des Wassers hinab: ein kurzes Rülpsen, und das beruhigende Geräusch des ablaufenden Wassers war nicht mehr zu hören.
»Heiraten«, sagte sie leise, »will ich nicht mehr. Darauf fall ich nicht mehr rein
Ȭ wenn du willst, werde ich sofort deine Geliebte, du weißt es, und als Geliebte werde ich dir treuer sein, als ich es als Frau sein könnte, aber heiraten werde ich nicht mehr. Seitdem ich begriffen habe, daß Rai tot ist, denke ich oft, daß es besser wäre, gar nicht zu heiraten: wozu dieses Theater, dieser Spuk, dieser tödliche Ernst mit der Ehe Ȭ und der Schrecken der Witwenschaft Ȭ, eine standesamtliche, eine kirchliche Trauung, und ein kleiner Stümper kommt daher und läßt dir deinen Mann abknallen Ȭ drei Millionen, vier Millionen von diesen feierlichen Verträgen werden durch einen Krieg zunichte gemacht: Witwen Ȭ ich bin einfach nicht geeignet, eine Witwe zu sein Ȭ, und ich möchte keines anderen Mannes Frau sein als Rais, und ich möchte keine Kinder mehr haben Ȭ das sind meine Bedingungen.«
»Meine kennst du«, sagte er.
»Natürlich«, sagte sie ruhig, »heiraten, den Jungen willst du adoptieren, und wahrscheinlich willst du noch eigene Kinder haben.«
»Gute Nacht«, sagte er und wollte aufstehen. »Nein, bleib hier«, sagte sie
ruhig, »jetzt wirdȇs endlich mal lustig, und du willst gehen. Warum so korrekt, so pedantisch Ȭ warum sich so streng an die Vorschriften halten: Ich sehȇs einfach nicht ein.«
»Um des Jungen willen. Deine Träume sind fast völlig bedeutungslos gegen
das Leben des Jungen. Schließlich bist du bald vierzig.«
»Mit Rai wäre alles gut gewesen, ich wäre ihm treu geblieben, und wir hätten noch mehr Kinder gehabt, aber sein Tod hat mich gebrochen, wenn duȇs so nennen willst, und ich möchte nicht noch einmal jemandes Frau sein. Du bist praktisch Martins Vater. Genügt dir das nicht?«
»Ich habe Angst«, sagte er, »daß du jemand anderen heiratest, der dann den
Jungen bekommt.« »Du liebst den Jungen mehr als mich?«
»Nein«, sagte er leise, »ich liebe ihn, und dich liebe ich nicht. Dazwischen gibt es kein mehr und kein weniger Ȭ ich kenne dich
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zu gut, um mich noch in dich zu verlieben, aber du bist schön genug, daß ich
gern hin und wieder bei dir schlafen möchte Ȭ und das wiederum könnte ich jetzt nicht mehr vollziehen, weil ich oft an Rai denke und der Junge immer um mich herum ist. Ich glaube, genauso ist es.«
»Oh«, sagte sie, »ich weiß schon genau, warum ich dich nicht heirate: Weil
du mich nicht liebst.«
»Aber du redest dir seit kurzem ein, daß du mich liebst. Es paßt in deine Träume.«
»Nein«, sagte sie, »ich rede es mir nicht ein, und ich weiß, daß es nicht so ist. Aber es geht mir mit dir, wie es dir mit mir geht. Früher nannte man das ein offenes Wort miteinander reden Ȭ aber unsere Worte sind nicht offen genug, öffne die Worte, wenn du willst.«
Albert wollte aufstehen, umhergehen oder vom Fenster aus sprechen, aber er hatte zu oft in Filmen gesehen, wie Männer, die sich mit Frauen offen aussprachen, aufstanden und umhergehend redeten, und so blieb er in dem unbequemen Sessel sitzen und nahm eine Zigarette aus der Schachtel, die Nella ihm hinhielt.
»Mein Gott«, sagte er, »schon von Liebe zu sprechen ist natürlich Unsinn;
würden wir nicht beide laut lachen, wenn ich eines Tages zu dir sagte: >Ich liebe dich.. .<« »Ich glaube schon«, sagte sie.
»Und es ist natürlich eine andere Sache, bei der Witwe eines Freundes zu
schlafen, als sie zu heiraten Ȭ und eine Frau heiraten, die Träume einnimmt, wie man Morphium schluckt, bewußt und gierig Ȭ das würde ich nur um Martins willen tun, aber es scheint mir, daß man eine Frau allein um eines Kindes willen eben nicht heiraten sollte Ȭ es wird mir heute erst klar.« Nella weinte, und er stand doch aus dem Sessel auf und ging im Zimmer umher, rastlos und unruhig, obwohl er es schon so oft in Filmen gesehen hatte.
»Nur eins«, sagte er, »kann ich und können wir alle wohl von dir um des
Jungen willen erwarten: daß du ein wenig vorsichtiger bist.«
»Du täuschst dich, wie ihr euch alle über mich täuscht, ihr haltet mich für eine halbe Hure, aber seit Rais Tod habe ich nicht einen Mann wirklich gehabt.«
»Um so schlimmer«, sagte er, »daß du sie mit deinem Lächeln
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aufdrehst, wie man Spielzeughähne aus Blech aufdreht. Ach, wir sollten trotzdem heiraten Ȭ wir könnten still und vernünftig mit dem Kind leben, brauchten uns um all die Vollidioten nicht zu kümmern, die unsere Zeit stehlen; in ein anderes Land ziehen, aus dem ganzen verfilzten Rummel heraus, und eines Tages vielleicht würde das, was man bisher Liebe genannt hat, vielleicht wie ein plötzlicher Regen, wie ein Gewitter über uns kommen Ȭ Rai ist tot«, sagte er, und er wiederholte es lauter und härter: »Rai ist tot.«
»Es hört sich fast an«, sagte sie, »als wärest du befriedigt darüber.«
»Du weißt, daß es für mich nicht weniger schlimn war, ihn zu verlieren, als für dich Ȭ nur auf eine andere Weise schlimm. Ich glaube, daß es mehr Frauen gibt, mit denen man verheiratet sein, als Männer, die man zum Freund haben könnte. Frauen, mit denen man hin und wieder mal schlafen könnte, gibt es aber unzählige. Jedenfalls Rai ist tot... Und es gibt nur wenige Möglichkeiten für dich: eine Witwe zu sein oder die Frau eines anderen Mannes; du aber versuchst in einem Zwischenstadium zu leben, in einer Kategorie, die es nicht gibt.«
»Die aber vielleicht im Entstehen ist«, sagte sie heftig, »eine Kategorie, die noch keinen Namen hat, aber vielleicht einen bekommen wird. Oh, ich hasse euch alle, weil ihr zulaßt, daß das Leben weitergeht. Vergessen streuen über den Mord, wie man Asche über Glatteis streut. Der Kinder wegen, ja der Kinder wegen, das hört sich herrlich an, und es ist ein herrliches Alibi: neue Witwen aufziehen, neue Männer, die abgeknallt werden und Frauen zu Witwen machen können. Neue Ehen gründen, oh, ihr Stümper, fällt euch nichts Besseres ein? Oh, ich weiß, ich weiß«, sie stand auf, setzte sich in einen anderen Sessel und blickte auf Rais Bild über ihrem Bett. »Ich weiß«, sagte sie heftig und ahmte Pater Willibrords Tonfall nach. »Das Kind und das Werk ihres Gatten betreuen«, und weiterhin: »Die Ehe ist ein Geheimnis. Ehen werden im Himmel geschlossen. Und sie lächeln dabei, wie Haruspices lächeln. Und sie beten in ihren Kirchen dafür, daß die Männer ausziehen, tapfer und frischȬfrommȬfröhlichȬfrei, damit die Witwenfabrik weiterläuft. Briefträger gibt es genug, die die Botschaft ins Haus bringen, auch Pfarrer gibt es genug, die es einem schonend beibringen. Oh ja, wenn einer weiß, daß Rai tot ist, dann weiß ich es. Ich weiß, daß er nicht mehr bei mir
ist, daß er nicht mehr kommt, nie mehr kommen wird auf dieser Welt, ich weiß genau Ȭ und ich fange an, dich zu hassen, weil du ernsthaft vorzuhaben scheinst, aus mir zum zweitenmal eine potentielle Witwe zu machen. Wenn man früh genug anfängt, mit sechzehn meinetwegen, dann kann man bis zu seinem seligen Ende gut und gerne fünfȬ bis sechsmal Witwe werden und immer noch am Ende so jung sein, wie ich bin. Feierliche Schwüre, feierliche Verträge Ȭ und sanft und lächelnd das Geheimnis hingesprochen: Ehen werden im Himmel geschlossen. Schön Ȭ dann sehne ich mich nach dem Himmel, wo meine Ehe wirklich geschlossen wird. Sag nur, daß ich den Tod nicht aus der Welt schaffen kann, sag es.« »Ich wollte es gerade sagen.«
»Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet. Ein schöner Spruch, mein Lieber Ȭ du kannst dir was darauf einbilden. Wolltest du nicht auch sagen, daß man ein neues Leben anfangen kann ?«
»Vielleicht wollte ich es sagen.«
»Oh, hör auf, das alte war zu schön Ȭ ein neues Leben: Darunter verstehst du eine neue Ehe mit dir.«
»Verdammt«, rief er, »bilde dir nicht ein, daß ich so furchtbar scharf darauf bin, dich zu heiraten, ich würde es nur aus Vernunftsgründen tun.«
»Das hört man gern«, sagte sie, »das ist sehr hübsch gesagt, an dir ist ein
Schmeichler verlorengegangen.«
»Entschuldige«, sagte er, »so warȇs auch wieder nicht gemeint«, er lächelte, »es wäre mir nicht schrecklich, dich zu heiraten.« »Das ist noch hübscher; du würdest sozusagen nicht sterben.« »Quatsch«, sagte er, »du weißt, daß ich dich gern mag, und weißt, daß du eine schöne Frau bist.«
»Aber nicht dein Typ, was?«
»Unsinn«, sagte er, »ich bleibe dabei, daß man ein neues Leben anfangen könnte.«
»Geh jetzt«, sagte sie, »geh.«
Es war ganz hell geworden. Er stand auf und zog die grünen Vorhänge wieder zu. »Gut«, sagte er, »ich gehe.«
»Insgeheim«, sagte sie, »denkst du, daß ich kirre werde und dich heirate, aber
du täuschst dich.« »Willst du noch ins Badezimmer?« »Nein«, sagte sie, »ich wasche mich in der Küche, geh nur.«
Er ging ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und zündete das Gas an.
Er legte die Brause wieder so, daß das Wasser einfließen konnte, ohne Geräusch zu machen, dann hängte er die Armbanduhr an den Nagel, in den sonst die Handbrause eingehängt war. Er ging zu Nella, die sich in der Küche die Zähne putzte.
»Du vergißt«, sagte er, »daß wir schon einmal versucht haben, so zu leben, wie du möchtest. Du vergißt überhaupt sehr viel.« Sie spülte den Mund aus, setzte das Glas ab und fuhr gedankenlos mit den Fingern über die Wandplatten.
»Ja«, sagte sie, »damals wollte ich es nicht — wegen des Kindes — es war
noch so klein Ȭ, und ich konnte nicht. Verzeih mir, daran dachte ich gar nicht mehr...«
Damals, kurz nach dem Krieg, hatte er sie heftig begehrt. Sie war die erste Frau, mit der er, nach fünfjährigem Zusammensein mit Männern, unter einem Dach schlief, und sie war eine schöne Frau. Wenige Tage nach seiner Heimkehr hatte er nachts einfach Rock und Hose übers Nachthemd gezogen und war barfuß in ihr Zimmer gegangen. Sie hatte noch Licht, saß lesend im Bett, hatte einen großen schwarzen Wollschal um ihre Schultern gewickelt, und der große elektrische Heizofen, der defekt war und dessen Drähte leise summten, stand neben ihrem Bett. Sie lächelte, als er hereinkam, sah dann seine nackte Füße und rief: »Mein Gott, du erkältest dich Ȭ setz dich her.« Es war kalt draußen, und im Zimmer roch es nach Kartoffeln, die säckeweise in die Kleiderschränke gestapelt waren, weil im Keller schon ein paarmal geklaut worden war.
Nella klappte das Buch zu, deutete auf das alte Lammfell, das vor ihrem Bett
lag, und warf ihm eine dicke rote Strickjacke zu. »Wickle dir das um die Füße.« Er sagte nichts, setzte sich, wickelte sich die Jacke um seine Füße und nahm sich eine Zigarette aus der Packung, die auf ihrem Nachttisch lag. Er hockte sich ein wenig hoch und spürte die wohltuende Wärme des glühenden Heizofens. Sie sagte nichts, und sie lächelte nicht mehr. Das Kind, das in einem rollbaren Bettchen neben dem Bücherschrank schlief, war erkältet und schnarchte regelmäßig. Ohne MakeȬup sah Nella älter aus als am Tage, blaß
war sie auch und müde, und ihr Atem, der bis zu ihm drang, roch intensiv
Buch, das sie auf dem Nachttisch liegen hatte: Therese DesqueȬroux. Unten im
Fach des Nachttisches lag ihre Unterwäsche, unordentlich übereinandergeworfen. Es war ihm peinlich, so plötzlich und ohne anzuklopfen bei ihr eingedrungen zu sein, und er blickte beharrlich an ihrem Gesicht vorbei auf die Wand, an der das Foto von Rai hing, oder vorne vors Bett, und er sah auch, wenn er vorne vors Bett blickte, Rais Gesicht mit einer penetranten Deutlichkeit: kein friedliches, ein zorniges Gesicht, das Gesicht eines Mannes, der zornig war über diesen zufälligen, sinnlosen Tod.
»Magst du einen trinken?« fragte Nella, und er war ihr dankbar, daß sie ein Lächeln dabei zustande brachte. »Ja, bitte«, sagte er.
Sie angelte ein Glas aus dem Spalt zwischen Bett und Wand und eine Flasche mit trübem, bräunlichem Schnaps. Nella goß ihm ein. Sie sagte nichts, sie ermunterte ihn weder noch dämpfte sie ihn, sie wartete ab, ein wenig lauernd.
Dann sagte er: »Trink doch mit«, und sie nickte und angelte aus dem Spalt zwischen Bett und Wand eine Kaffeetasse heraus, kippte den Rest Kaffee und Kaffeesatz mit einem Ruck über seinen Kopf hinweg aufs Parkett und hielt ihm die Tasse hin. Er goß ihr ein, und sie tranken beide und rauchten, während der Heizofen in seinem Rücken summte wie eine große, freundliche Katze. Noch bevor sie den Schnaps ausgetrunken hatte, knipste er das Licht aus, und er sagte, von dem Heizofen rötlich angestrahlt: »Wenn du nicht magst, sag, daß ich gehen soll.« Ȭ»Nein«, sagte sie, und sie lächelte ängstlich, und er bekam nie heraus, ob dieses Nein in diesem Augenblick ja oder nein hieß. Er knipste auch den Heizofen aus, wartete, bis die Drähte ausgeglüht waren, und beugte sich über ihr Bett. Sie zog im Dunkeln seinen Kopf zu sich wie mit einer Schlinge, küßte ihn auf die Wange und murmelte im Dunkeln: »Es ist schon besser, du gehst«, und er behielt eine merkwürdige Enttäuschung zurück: Enttäuschung über ihren Mund, der ihm weich und groß erschienen war auf seiner Wange, ein Kuß, der ihm nicht so erschien, wie er sich Nellas Küsse vorgestellt hatte. Er knipste das Licht wieder an, auch den Heizofen, und empfand es als wohltuend, daß er sich nicht zu schämen brauchte, weil Nella so nett war, und daß er keine große Enttäuschung empfand, weil sein Plan nicht gelungen war. Nella lachte, als das Licht wieder
brannte, und sie zog ihn noch einmal mit ihrem Arm wie in einer Schlinge zu
sich herunter und küßte ihn auf die andere Wange, und er spürte wieder Enttäuschung. Nella sagte: »Wir können es nicht«, und er ging in sein Zimmer zurück, und sie sprachen nicht wieder davon, und er hatte es vergessen bis zu diesem Augenblick, wo es ihm im Badezimmer wieder einfiel.
Nella setzte das Zahnglas auf das Bord und sah ihn nachdenklich an: »Ja, damals wollte ich nicht, wegen des Kindes...« »Und heute«, sagte er, »kann ich nicht Ȭ auch wegen des Jungen.«
»Merkwürdig«, sagte sie lächelnd, »daß ich das vergessen konnte.«
»Manches vergißt man«, sagte er auch lächelnd, »weil es so ist, als wäre es gar nicht geschehen. Aber vielleicht bist du nun nicht mehr gekränkt über das, was ich eben sagte.« »Wir sind inzwischen neun Jahre älter geworden«, sagte sie. »Gute. Nacht.«
Er ging ins Badezimmer und hörte kurz darauf Nella in ihr Zimmer gehen und
die Tür schließen. Er zog sich aus und stieg in die Wanne, und er war jetzt schon ärgerlich über die Müdigkeit, die ihn gegen neun befallen würde. Er liebte es, früh schlafen zu gehen, tief und lange zu schlafen, am Morgen früh aufzustehen und mit dem Jungen zu frühstücken und ihm den Weg in die Schule zu erleichtern, denn er wußte, wie schrecklich es für ein Kind ist, wenn es morgens als einziges früh aufstehen, sein Frühstück zusammensuchen, dann in die Schule trotten muß, wissend, daß alle im Hause noch schlafen können. Seine Eltern hatten eine Kneipe gehabt und waren nie vor drei, vier Uhr ins Bett gekommen, und seine ganze Kindheit lang war er morgens durch vollgerauchte Gastzimmer in die leere und große Küche gegangen. Dort roch es nach kaltem Fett, altgewordenen Salaten, auf einem Frühstücksbrett lagen seine Butterbrote, und auf dem Gaskocher stand der Kaffee in einer Aluminiumkasserolle. Das Zischen der Gasflamme in der eiskalten, übel riechenden Küche, der hastig hinuntergewürgte heiße Kaffee, der aufgewärmt schmeckte, und die Butterbrote mit viel zu großen, eilig heruntergesäbelten Fleischstücken, die er nicht mochte. Solange er von zu Havse weg war, hatte er sich danach gesehnt, früh ins Bett zu gehen und früh aufzustehen, aber
immer hatte er mit Leuten zusammengeȬ
lebt die diesen Rhythmus unmöglich machten. Er brauste sich kalt ab,
trocknete sich und ging leise in die Küche. Glum war, während er badete, schon dort gewesen. Glums Kaffeekännchen war leer, und die Kaffeemütze lag daneben. Auch Bolda schien schon gegangen zu sein. Es lagen Krümel ihres dunklen, sauren Brotes herum.
Er ging in sein Zimmer und wollte Martin wecken, aber er war schon wach. Das Kind lächelte. Offenbar freute es sich, zu sehen, daß er da war und mit ihm frühstücken würde. »Entschuldige«, sagte Albert, »daß ich gestern abend nicht da war, als du aus der Schule kamst, ich mußte einfach weg. Sie riefen mich an. Komm, du mußt aufstehn.« Er erschrak, als der Junge sich aus dem Bett geschwungen und hingestellt hatte: Er war so groß wie alles, an dem Nella vorbeiträumen wollte. Er ließ ihn allein und ging in die Küche zurück, um die Eier zu kochen und die Brote zurechtzumachen. In Nellas Zimmer war es still, und für einen Augenblick verstand er sie, denn auch er hatte Angst, weil der Junge schon so groß war und offenbar in einer ganz anderen Welt lebte als sie.
8
Das Haus verfiel immer mehr, obwohl genügend Geld da war, es instand zu halten. Aber niemand kümmerte sich darum. Das Dach war defekt, und Glum klagte oft darüber, daß der große dunkle Flecken an seiner Zimmerdecke sich vergrößere. Wenn es heftig regnete, tropfte es sogar von seiner Decke herunter, und sie gingen dann Ȭ von plötzlicher Aktivität ergriffen Ȭ auf den Speicher, um eine Schüssel unter die defekte Stelle zu setzen. Dann hatte Glum eine Weile Ruhe. Die Dauer dieser Ruhe hing von der Größe der Schüssel und der Heftigkeit des Regens ab: War die Schüssel flach und regnete es heftig und lange, dann war es mit Glums Ruhe bald vorüber, denn die Schüssel lief über, und der dunkle Flecken an Glums Decke vergrößerte sich. Dann wurde eine größere Schüssel unter die defekte Stelle gesetzt. Doch bald zeigten sich auch in Boldas Zimmer diese Flecken, auch an der Decke des leerstehenden Zimmers, in dem der Großvater gewohnt hatte. Und im Badezimmer fiel eines Tages ein großes Stück Putz herunter. Bolda
sammelte den Dreck auf, und Glum mischte ein merkwürdiges Zeug aus
Nella aber war stolz auf ihre Aktivität, als sie in die Stadt fuhr, um zehn große Zinkwannen zu kaufen, die auf dem Speicher verteilt wurden und fast die ganze Bodenfläche bedeckten. »Jetzt kann so was nicht mehr passieren«, sagte sie, und sie gab für die Wannen ungefähr soviel Geld aus, wie eine vernünftige Dachreparatur gekostet hätte, und wenn es regnete, hörten sie von oben das seltsame melodische Tropfen des Regens, der in den großen, hohlen Wannen ein dunkles, warnendes Geräusch hervorrief. Trotzdem mußte Glum immer öfter sein Gemisch aus Gips, Sand und Kalk an die Decken schmieren. Er beschmutzte dabei die Treppen, seine Kleider; und Martin, der ihm Hilfestellung leistete, war auch von oben bis unten verschmiert, und seine Kleider mußten in die Reinigungsanstalt gegeben werden. Von Zeit zu Zeit stieg die Großmutter auf den Speicher, besichtigte die Schäden. Sie wand sich zwischen den Zinkwannen durch, und ihre schweren Seidenröcke verursachten an den Rändern der Wannen ein helles, klingendes Schaben. Sie setzte dann ihre Brille auf, und ihr ganzes Wesen strahlte Umsicht und VerȬ antwortungsgefühl aus. Immer wieder beschloß sie dann, in alten Ordnern nach der Adresse des Dachdeckers zu suchen, der früher für sie gearbeitet hatte, und wirklich sah man sie tagelang in ihrem Zimmer von Ordnern und Schnellheftern umgeben, sie blätterte in alten Geschäftspapieren, verlor sich im Studium von Kontoauszügen. Aber die Adresse des Dachdeckers wurde nie gefunden, obwohl sie Ordner um Ordner aus den Archiven der Fabrik kommen ließ. Ein Jahrgang nach dem anderen wurde mit dem kleinen, roten Lieferwagen herübergebracht, bis ihr Zimmer ganz mit Akten gefüllt war. Ruhe aber gab sie erst, wenn sie endlich beim ersten Jahrgang angekommen war: modrigen Kopierbüchern aus dem Jahre 1913.
Dann holte sie Martin zu sich herein, und der Junge mußte ihr stundenlang zuhören, sich in die Geheimnisse der aromatischen Konfitüre einführen lassen, die sein Großvater erfunden und in die ganze Welt verkauft hatte. Der erste Weltkrieg hatte dem jungen Unternehmen einen ungeheuren Aufschwung gebracht, und die Großmutter pflegte zum Abschluß ihrer Lektion dem Jungen graphische Darstellungen der Produktionsziffern zu zeiȬ gen, mit Tusche säuberlich gezeichnete Linien, die wie Querschnitte von Gebirgen aussahen und aus denen eindeutig zu ersehen war, daß
Das Jahr 1917 »Das Jahr, in dem deine Mutter geboren wurde, mein liebes Kind«, das Jahr 1917 war ein einsamer Gipfel Ȭ eine Höhe, die bis 1941 unerreicht blieb. Doch fiel dem Jungen, der notgedrungen die Tafeln betrachtete, auf, daß ein rapider Anstieg schon mit dem Jahre 1933 begann. Er fragte die Großmutter nach der Ursache dieses Ansteigens, denn er hatte Angst vor ihr und wollte Interesse heucheln, und sie begann mit einer langȬ atmigen, begeisterten Erklärung, sprach von Zeltlagern, MasȬ senversammlungen, Veranstaltungen, Parteitagen und zeigte zum Schluß triumphierend mit ihrem langen, ein wenig gelblichen Zeigefinger auf das Jahr 1939, wo es wieder einen Aufwärtsruck gab. »Wo immer Kriege von Deutschen geführt werden, sind sie mit steigenden Produktionsziffern in der Marmeladeindustrie verbunden«, sagte sie. Hatte sie sich bis zum Jahre 1913 durch die Geschäftspapiere durchgewühlt und dem Jungen das
»Notwendigste« erklärt, rief sie die Geschäftsführung an, und der kleine, rotlackierte Lieferwagen mußte einige Male hinȬ und herfahren, um die vierzig Jahrgänge wieder abzuholen. Der Dachdecker war inzwischen längst vergessen, die Zinkwannen blieben auf dem Speicher stehen, und jeder Regen wurde zu einem großartigen monotonen Konzert. Aber auch die Fenster waren beschädigt, und im Keller stand monatelang Wasser, weil die Pumpe defekt war. Wenn Bolda große Wäsche hielt, stieg das Wasser im Heizungskeller aus einem schmalen, auszementierten Schacht; Seife und Schmutz bildeten ein glitschiges Sediment, das den Zementboden wie grünlichweißer Schimmel bedeckte. Faulig roch es, und der Geruch der Kartoffeln, die in den Lattenkisten keimten, zog die Ratten an.
Albert hatte nichts davon gewußt. Er entdeckte die Ratten, als er nach langer
Zeit einmal wieder in den Keller stieg. Nach einem langen Streit mit Nella wollte er in der großen Kiste nach den Briefen suchen, die Rai ihm nach London geschickt hatte: Er wollte beweisen, daß er nicht auf Rais, sondern auf Nellas Veranlassung zurückgekommen war. Albert ging sonst nie in den Keller, und er erschrak, als er sah, wie schmutzig alles war: Verstaubte Kisten standen herum, Lumpen lagen in den Ecken, und neben dem Eingang zur Waschküche stand ein halber Sack verschimmelten Mehls, von dem ein paar Ratten weghuschten, als Albert Licht anknipste. Er hatte Angst vor Ratten,
als er die schwarzen Schatten durch den Keller huschen sah. Er warf ein paar
Stücke Koks hinter ihnen her, bezwang sich und ging langsam zu der großen, braunen Holzkiste durch, die unter der Gasuhr stand.
Rai hatte nur wenige Briefe geschrieben, vielleicht zehn, aber er wußte, daß er
sie mit einer Hanfschnur umwickelt und in dieser Kiste versteckt hatte. Der Packen, der Nellas Briefe enthielt, war umfangreicher, und Leens Briefe füllten zwei Schuhkartons. Schwärzlicher Staub und Mäusedreck hatte sich zwischen alle Papiere gesetzt. Es war still im Keller, und er hatte Angst vor den Ratten. Im deutschen Militärgefängnis von Odessa waren sie ihm nachts übers Gesicht gehuscht, er hatte die weichen haarigen Bäuche gespürt und war über seine eigenen Schreie erschrocken gewesen. Er riß die dreckigen Papierbündel aus der Kiste und fluchte leise über Nellas und der Großmutter Schlamperei. Aus der Ecke, aus dem kleinen Raum, in dem leere Kisten und MarȬ meladeneimer abgestellt waren, hörte er plötzlich hastiges Rumpeln, blechernes Gerolle. Er ging in die dunkle Ecke hinein, öffnete die Lattentür und schleuderte voll Haß und Wut in den dunklen Keller hinein, was ihm unter die Hände kam: einen Besenstiel, einen zerbrochenen Blumentopf und die Kufen von Martins Schlitten, und als der Lärm, den er verursachte, vorüber war, blieb es still.
Die Kiste enthielt auch seine eigenen Briefe, die er vor dem Krieg und während
des Krieges an Nella geschrieben hatte, und jetzt, wo er darin herumwühlte Ȭ zum erstenmal seit zehn Jahren Ȭ, beschloß er, alles noch einmal zu lesen. Gewiß lagen auch noch Gedichte von Rai dazwischen, Briefe von Absalom Billig Ȭ und was er vor allem suchte Ȭ, Briefe von Schurbigel, Briefe, die Rai mit Kommentaren versehen hatte: Briefe aus dem Jahre 1940, in denen Schurbigel den Sieg über Frankreich gefeiert und in Zeitungsartikeln die deutsche Jugend aufgefordert hatte, mit der Dekadenz dort drüben aufzuräumen. Auch Prosastücke von Rai würden sich noch finden und viele Briefe von ihm aus der Zeit vor dem Krieg.
Jetzt nahm er nur Rais Briefe, ein kleines Päckchen, nahm Nellas Briefe Ȭ und er stockte, als er einen großen Karton sah, auf dem rötlichȬbraun Sunlight gedruckt war. Er zog den großen Karton, der den halben Boden der Kiste bedeckte, heraus. Er schlug ihn gegen die Wand, um den Dreck zu entfernen,
den Briefpakete und den Karton und stieg hinauf. Nella saß in ihrem Zimmer
und weinte. Sie hatte die Tür offengelassen, um ihn zu sehen, wenn er aus dem Keller kam, aber er ging durch die Diele an ihrer offenen Tür vorbei. Er schämte sich wegen des sinnlosen Streits, der seit Jahren periodisch zwischen ihnen ausbrach, der immer mit denselben Argumenten geführt wurde und immer wieder mit Versöhnung endete.
Er setzte den SunlightȬKarton in seinem Zimmer ab, legte die beiden
Briefpacken darauf und ging ins Badezimmer, sich gründlich zu säubern. Der Gedanke, daß unten im Keller die Ratten wühlten, entsetzte ihn, und in einem plötzlichen Ekel beschloß er, saubere Wäsche anzuziehen.
Als er aus dem Badezimmer zurückkam, saß Nella immer noch bei offener
Tür in ihrem Zimmer. »Kommst du nicht herüber, Kaffee trinken?« rief sie.
»Gleich«, sagte er.
Er schrieb sich aus dem Telefonbuch die Nummern eines Maurers, eines Dachdeckers, eines Installateurs und eines Kammerjägers heraus, rief alle vier an und beauftragte sie, zu ihm zu kommen. Es war in acht Minuten erledigt, und er ging in Nellas Zimmer und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel.
»Wußtest du, daß wir Ratten im Keller haben?« Sie zuckte die Schultern:
»Bolda beklagte sich mal darüber.« Ȭ »Die Kartoffeln keimen«, sagte er wütend, »faulende Nährmittel stehen herum, und ein halber Sack verschimmelten Mehls steht neben dem Eingang zur Waschküche. Euer ganzer Hamsterdreck verkommt da unten, und in den Marmeladeneimern, die ihr nie ganz leert, fahren die Ratten Schlitten. Es ist eine Sauerei.« Nella runzelte die Stirn und schwieg.
»Seitdem ich in diese verfluchte Familie hineingeraten bin, habe ich versucht,
gegen Dreck und Schlamperei anzugehen, aber seitdem dein Vater tot ist, komme ich gegen euch nicht mehr auf. Bald wird man nur noch mit einer Pistole den Keller betreten können — und du könntest einen fabelhaften existentialistischen Privatfilm da unten drehen: fast kostenlos...« »Nimm den Kaffee«, sagte sie.
Er zog die Tasse zu sich herüber, rührte die Milch um. »Ich werde das Dach
und die Decken reparieren, den Keller ausräuchern und die Pumpen nachsehen lassen. Meinst du, es ist gut für den Jungen, an dieser Schlamperei
»Ich wußte gar nicht«, sagte Nella müde, »daß du so für Ordnung bist und dich so an Aktivität berauschen kannst.« »Du weißt manches nicht, weißt zum Beispiel nicht, daß Rai wirklich ein guter Dichter war Ȭ trotz des widerlichen Rummels, den sie mit ihm machen Ȭ, und ich werde etwas tun, ich werde Briefe von Schurbigel aus der Kiste unten heraussuchen, bevor die Ratten diese unbezahlbaren Dokumente gefressen haben.« »Rai war mein Mann«, sagte sie, »und ich mochte ihn, alles an ihm Ȭ aber seine Gedichte mochte ich am wenigsten, ich verstand sie nie. Ich wünschte nur, er wäre kein Dichter gewesen und lebte noch. Hast du die Briefe nun endlich gefunden, die du suchst?«
»Ja«, sagte er, »ich habe sie gefunden, es tut mir leid, daß ich es zum Streit kommen ließ wegen dieser alten Geschichten, die wir nicht mehr erwähnen sollten.«
»Nein, es ist gut. Ich möchte die Briefe lesen, obwohl es überflüssig ist, denn ich weiß natürlich, daß du recht hast, daß ich schuld bin, wenn du aus London zurückkamst, aber trotzdem möchte ich die Briefe lesen. Es wird mir ganz guttun.« »Lies sie und behalte sie, meinetwegen verbrenne sie. Es liegt mir nichts daran, zu beweisen, daß ich recht hatte. Man meint nur immer, es wäre besser gekommen, wenn man das oder das vor Jahren anders gemacht hätte. Es ist natürlich sinnlos.« »Ich werde vor allem Rais Briefe noch einmal lesen, weil ich herausbekommen möchte, ob es stimmt, was ich denke: daß er sterben wollte.«
»Wenn du die Briefe durchsiehst, bitte wirf keinen weg, der von Schurbigel ist, keinen einzigen der Briefe, die andere Leute an Rai geschrieben haben.«
»Nein, nein, ich werde nichts wegwerfen; ich will nur genau wissen, was mit Rai war. Du weißt, Vater hätte sogar erreichen können, daß er nicht zum Militär brauchte, er hätte ihm sogar den Krieg ersparen können, ich bin sicher. Vater hatte mit hohen Heeresstellen zu tun Ȭ aber Rai wollte nicht. Er wollte nicht auswandern, wollte nicht vom Militär befreit werden, obwohl er nichts auf der Welt so haßte wie Militär Ȭ manchmal meine ich, er wollte sterben. Das denke ich oft, und das ist wohl einer der Gründe, warum ich meinen Haß auf diesen Gäseler immer nur künstlich entfachen kann.«
Albert fing ihren lauernden Blick auf und fragte: »Wie kommst du auf
»Oh, nichts, ich dachte nur daran Ȭ du, du sprichst nie über Rai. Du müßtest
es wissen, aber darüber sprichst du nie.« Albert schwieg. Rai war in den letzten Wochen vor seinem Tod fast stumpfsinnig gewesen; er war müde dahergetrottet, und ihre Freundschaft hatte sich darin erschöpft, die Zigaretten zu teilen und einander beim Herrichten des Quartiers und beim Reinigen der Waffen zu helfen. Müde war Rai gewesen wie die meisten InȬ fanteristen, von denen er sich nur wenig unterschied. Nur an manchen Vorgesetzten entzündete sich sein Haß. »Es gibt noch etwas«, sagte Nella,
»wovon du nie gesprochen hast.«
Albert sah sie an, er hielt seine leere Tasse hin, und sie schenkte ihm Kaffee ein, und er hatte Zeit, alles hinauszuzögern, solange er in der Milch rühren, den Zucker zerkleinern konnte. »Es ist nicht viel zu sagen«, sagte er, »Rai war müde, er war zerschlagen, und ich habe wohl nie darüber gesprochen, weil ich nichts darüber weiß. Jedenfalls nicht viel.« Er ertappte sich dabei, daß er an den großen SunlightȬKarton dachte, an die mürrische kleine Händlerin, die ihm damals den Karton gegeben hatte: Es war schon dunkel gewesen, und er hatte keine Lust gehabt, in sein Zimmer zu gehen, wo der Ofen nicht recht zog und der fettige, bittere Kohlenqualm sich in Möbeln, Kleidern und der Bettwäsche festgesetzt hatte; wo Leens Spirituskocher noch auf dem Hocker stand, bekleckert mit Suppen, die Leen hatte überkochen lassen.
»Stumpf und passiv war Rai«, sagte er, als Nella ihn anblickte, »aber das war er schon, als ich aus England zurückkam. Zurechtgeschüttelt, zurechtgetrommelt; seit vier Jahren schon hatte er nichts mehr geschrieben, was ihm Spaß machte.« Er dachte an die atemlose Stille, die geherrscht hatte, als der Krieg ausbrach: Für einen Augenblick war es still gewesen in der ganȬ zen Welt, als das Zahnrad in den bereitstehenden Mechanismus griff; als es eingeklickt war, lief der Mechanismus, und sein Wirken stärkte den Stumpfsinn und bestärkte die Resignation. Er schüttelte den Kopf, als Nella ihm die Zigarette hinhielt, er griff aber automatisch in die Tasche, gab ihr Feuer und versuchte, ihrem lauernden Blick zu entgehen.
»Wirklich«, sagte er, »es ist kein Geheimnis dabei. Nur: Es ist natürlich nicht
schön für einen Dichter, überall den Slogans zu begegnen, die er selbst verfaßt hat: Marmeladenslogans. >Das ist
also mein Beitrag zum Krieg Ȭ gegen den Kriegs sagte Rai einmal zu mir Ȭ und
er trat voller Haß gegen einen Marmeladeneimer aus der Fabrik deines Vaters. Es war auf dem Bazar in Winiza, wo eine alte Frau in einem sauberen Marmeladeneimer Gebäck feilhielt: Nußecken waren es, und der Eimer fiel um, und die Nußecken fielen auf die Erde Ȭ Rai und ich halfen der Frau, alles wieder aufzuheben, wir bezahlten es ihr und entschuldigten uns.«
»Weiter«, sagte Nella, und er sah, daß sie sehr gespannt war, als erwartete sie
eine sensationelle Enthüllung. »Nichts weiter«, sagte er, »vierzehn Tage später war er tot, aber der Weg zu seinem Tod war auch mit Marmeladeneimern umsäumt: Es war natürlich ein Schlag für uns beide, überall diese Dinger zu sehen, es machte uns krank, und keinem anderen fiel es auf, nur — wenn ichȇs dir sage, wirst du mich hassen und wirst böse sein.«
»Liegt dir so viel daran, von mir nicht gehaßt zu werden?« »Schon«, sagte
er, »es liegt mir schon viel daran.« Er hatte Nella die ganze Zeit über im Auge behalten und ihr Gesicht beobachtet, aber ihr Gesicht veränderte sich nicht. Sie griff nur nach der Zigarettenpackung, nahm eine Zigarette heraus, zündete sie an, obwohl ihre erste Zigarette, noch nicht halb aufgeraucht, qualmend im Aschenbecher lag. »Über das alles, Nella«, sagte er leise, »möchte ich nicht mehr sprechen, wir wissen, daß Rai tot ist, wissen, wie er gestorben ist, und es ist sinnlos, nach Motiven zu suchen.« »Sprach er wirklich nicht mehr mit dir, wie du immer erzähltest?«
»Nein«, sagte er, »er konnte nicht sprechen, die Luftröhre war verletzt. Er sah
mich an, und weil ich ihn kannte, konnte ich aus seinen Blicken, aus seinem Händedruck wohl einiges lesen, daß er zornig war über den Krieg, zornig wohl auch auf sich selbst, und daß er dich liebte und mich bat, mich um das Kind zu kümmern Ȭ du hattest ihm geschrieben, daß du schwanger seist. Das ist alles.«
»Er betete nicht? Du sagtest doch immer...« »Er betete wohl, er bekreuzigte
sich, aber das werde ich niemals jemand erzählen, und wenn duȇs jemand von diesen Schweinen sagst, schlagȇ ich dich tot. Wirklich«, sagte er, »das wäre ein Fressen für sie, und die Legende wäre fertig.«
105
Nella bemerkte jetzt die zweite Zigarette, drückte sie lächelnd aus. »Ich verspreche dir, daß ich es niemand erzählen werde.«
»Schön wäre, wenn du all diese Leute fallen ließest.«
»Wirst du das alles auch dem Jungen erzählen?«
»Später einmal.«
»Und Gäseler?«
»Was ist mit ihm?«
»Nichts«, sagte sie, »ich mache mir manchmal Vorwürfe, daß ich keinen flammenden, keinen racheschwangeren Haß gegen ihn empfinde.«
»Im Grunde«, sagte er, »würde er ganz gut zu Schurbigel passen. Was ist Ȭ was hast du, warum wirst du rot?«
»Laß mich«, sagte sie, »laß mich ein paar Tage in Ruhe: Ich muß mir über
verschiedenes in Ruhe meine Gedanken machen – gib mir die Briefe, bitte.« Er trank den Kaffee aus, ging in sein Zimmer, holte die beiden Briefpacken und legte sie vor Nella auf den Tisch.
Er hatte tagelang mit den Handwerkern zu tun, sich mit ihnen zu beraten und Kostenanschläge einzuholen. Die Pumpe im Keller wurde repariert, das Dach, und im oberen Geschoß würden die Decken neu verputzt. Bolda konnte jetzt nach jeder Wäsche das Wasser aus dem Keller in den Kanal pumpen, und der Keller wurde gesäubert und ausgeräuchert. Verschimmelte Vorräte, Lumpen kamen zum Vorschein und Kartoffeln, deren Keime so lang waren wie Spargel.
Albert ließ auch die dunklen, grünen Scheiben aus den Flurfenstern
herausnehmen, und es kam nun Licht in die Diele. Die Großmutter schüttelte den Kopf über so viel Aktivität, sie kam jetzt öfter aus ihrem Zimmer heraus, sah den Handwerkern zu und überraschte alle durch die Mitteilung, sie werde die Reparaturen bezahlen. Wie Nella annahm, entsprang dieser Entschluß ihrer Vorliebe für ihr Scheckbuch, dessen sie sich mit einem kindlichen Stolz bediente. Sie zog es so gern aus der Schublade ihres Schreibtisches, schlug es auf, füllte mit der Miene einer alten Prokuristin den bläulichen Scheck aus, löschte ihn ab und riß ihn mit elegantem Schwung aus der Perforierung. Dieses helle, tuckerige Geräusch, wenn der Scheck sich aus
der Verzahnung löste, rief auf ihrem großen, rosigen Gesicht ein glückliches
zigjährige Frau vor vierzig Jahren ein Scheckbuch bekommen hatte, von
diesem Augenblick an hatte ihre kindliche Freude über die Tatsache, daß sie Geld machen konnte, nicht nachgelassen. Sie verschliß eine Menge von Scheckbüchern, denn jede Kleinigkeit bezahlte sie mit Schecks, sogar die Zechen in Restaurants und Cafes, und es kam oft vor, daß sie Martin mit einem Scheck über vier Mark zum Händler schickte, vierzig Tomahawk zu holen. Gab es gar nichts zu bezahlen, war ihr Zigarettenvorrat gedeckt, der Eisschrank mit allem gefüllt, dann ging sie im Hause umher und bot allen Geld an, nur, damit sie einen Scheck herausreißen und die sägeartige Musik hören konnte, die das Herausreißen begleitete. Sie ging dann, die Tomahawk im Mund, mit dem flatternden Scheckbuch von Zimmer zu Zimmer Ȭ so, wie sie bei Blut im Urin mit der Urinflasche herumzog Ȭ und sagte: »Wenn du Geld nötig hast, ich könnte dir aushelfen«, und schon saß sie auf einem Stuhl, schraubte den Füller auf Ȭ auch dessen bediente sie sich mit kindlichem Stolz Ȭ und fragte: »Wieviel müßte es sein?« Glum war bei diesen Gelegenheiten am nettesten zu ihr, er nannte dann eine sehr hohe Summe, setzte sich zu ihr, feilschte lange mit ihr hin und her, bis sie endlich den Scheck ausfüllen und ihn herausreißen konnte. Sobald sie gegangen war, zerriß Glum Ȭ wie es alle taten Ȭ den Scheck und warf die Schnipsel fort.
Meistens aber hockte Großmutter in ihrem Zimmer, und niemand wußte
genau, was sie den ganzen Tag über trieb. Sie ging weder ans Telefon noch öffnete sie die Tür, wenn geklingelt wurde. Oft kam sie erst gegen Mittag aus ihrem Zimmer und ging, mit dem dicken, geblümten Morgenrock bekleidet, in die Küche, um sich ihr Frühstück zu holen. Man hörte nur ihren Husten, denn ihr Zimmer füllte sich, weil sie unaufhörlich rauchte, mit Zigarettenqualm, der langsam in strähnigen grauen Schwaden in die Diele stieg. An solchen Tagen mochte sie niemand sehen außer Martin, den sie in das Zimmer rief. Das Kind entfloh, wenn es eben ging, sobald die Großmutter rief, aber meistens erwischte sie ihn, schleppte ihn ab, und er mußte stundenlange Lektionen über sich ergehen lassen, nahm verworrene Aufklärungen über Leben und Tod entgegen und mußte seine Kenntnisse in Katechismus beweisen. Bolda, die mit der Großmutter zusammen die Schule besucht hatte, wußte allerdings boshaft kichernd zu erzählen, daß die
Katechismus nie gekonnt hatte. Mühsam atmend, weil das Zimmer voller Zigarettenqualm war, saß Martin auf dem Sessel ihrem Schreibtisch gegenüber, betrachtete das aufgeschlagene Bett, den Teewagen mit dem schmutzigen Frühstücksgeschirr, und der Junge nahm die verschiedenen Färbungen der Qualmschichten in sich auf: blau, strahlend blau fast waren die winzigen, runden Wölkchen, die die Großmutter ausstieß, bevor sie den Rest in die Lunge pumpte. Sie war stolz darauf, daß sie schon seit dreißig Jahren rauchte und inhalierte mit Nachdruck Ȭ dann kam aus ihrem Munde der hellgraue, nur leicht bläulich gefärbte Stoß, der in der Lunge gefiltert worden war: heftig ausgestoßener Strahl, der sich einige Sekunden lang in dem dichten, schiefergrauen, gleichmäßigen Qualm, der das Zimmer füllte, hielt: ein stumpfes, bitteres Grau, und an einigen Stellen des Raumes Ȭ oben an der Decke, unter dem Bett und vor dem Spiegel Ȭ ballte sich das Schiefergrau zu dichten, weißlich konzentrierten Wolken zusammen, die auseinanderȬ gezogenen Wattebäuschchen glichen.
»Dein Vater ist gefallen, nicht wahr?« »Ja.«
»Was bedeutet >gefallen<?«
»Im Krieg gestorben, erschossen worden.«
»Wo?« »Bei Kalinowka.«
»Wann?«
»Am 7. Juli 1942.«
»Und wann wurdest du geboren?«
»Am 8. Oktober 1942.«
»Wie heißt der Mann, der deines Vaters Tod verschuldete?«
»Gäseler.«
»Wiederhole diesen Namen.«
»Gäseler.«
»Noch einmal.«
»Gäseler.«
»Wozu sind wir auf Erden?«
»Um Gott zu dienen, ihn zu lieben und dadurch in den Himmel zu kommen.«
»Weißt du, was es bedeutet, einem Kind seinen Vater nehmen?« »Ja«, sagte
spiel hatte einen großen blonden Vater, Weber hatte einen kleinen schwarzen
Vater. Die Jungen, die Väter hatten, hatten es schwerer in der Schule als die, die keine hatten. Hatte Weber schlecht gelernt, wurde er schärfer angepackt als Brielach, wenn dieser schlecht gearbeitet hatte. Der Lehrer war alt, hatte graue Haare und hatte »einen Sohn im Krieg verloren«. Von den Jungen, die keine Väter hatten, hieß es: Er hat den Vater im Krieg verloren; Schulräten wurde es zugeraunt, wenn ein Junge bei Visitationen versagte Ȭ und Lehrer sagten es von Jungen, die neu in die Klasse kamen: Er hat den Vater im Krieg verloren. Es klang, als hätte er ihn stehenlassen wie einen Schirm oder ihn verloren, wie man eine Groschen verliert. Sieben Jungen in der Klasse hatten keinen Vater mehr: Brielach und Welzkam, Niggemeyer und Poske, Behrendt und er, außerdem Grebhake, aber Grebhake hatte einen neuen Vater, und das Gesetz geheimnisvoller Schonung waltete nicht so sicher über ihm wie über den anderen sechs: Es gab Nuancen der Schonung. In vollem Umfang genosȬ sen die Schonung nur drei: Niggemeyer, Poske und er, aus Gründen, die er langsam in jahrelanger Beobachtung und Erfahrung herausgefunden hatte: Grebhake hatte einen neuen Vater, Brielachs und Behrendts Mütter hatten Kinder, die nicht von den verstorbenen Vätern, sondern von anderen Männern waren. Er wußte, wie die Kinder auf die Welt kamen. Onkel Albert hatte es ihm erklärt: durch Vereinigung der Männer mit den Frauen. Brielachs und Behrendts Mütter hatten sich mit Männern vereinigt, die nicht ihre Männer, sondern Onkels waren. Und diese Tatsache wurde durch ein weiteres, halb geheimnisvolles Wort erklärt: unmoralisch. Aber auch Welzkams Mutter war unmoralisch, obwohl sie kein Kind von Welzkams Onkel hatte, denn es war eine weitere Erkenntnis und Erfahrung: Männer und Frauen konnten sich vereinigen, ohne daß es Kinder gab, und die Vereinigung einer Frau mit einem Onkel war unmoralisch. Die Jungen, die eine unmoralische Mutter hatten, genossen merkwürdigerweise nicht ganz soviel Schonung wie die Jungen, deren Mütter nicht unmoralisch waren Ȭ am schlimmsten aber war es für die, am wenigsten Schonung aber genossen die, deren Mütter Kinder von Onkeln hatten: schmerzlich und unerklärlich, daß unmoralische Mütter den Grad der Schonung verringerten. Bei den Jungen, die Väter hatten, war alles anders: Es war geregelt, unmoralisch gab es nicht.
»Paß doch auf«, sagte die Großmutter. »Frage fünfunddreißig: Wozu wird
Jesus am Ende der Welt wiederkommen?« »Jesus wird am Ende der Welt wiederkommen, um die Menschen zu richten.«
Würde sich das Gericht gegen unmoralisch wenden? Leise Zweifel befielen ihn.
»Schlaf nicht ein«, sagte die Großmutter. »Frage achtzig: Wer begeht eine Sünde?«
»Eine Sünde begeht, wer ein Gebot Gottes freiwillig übertritt.« Die
Großmutter liebte es, den Katechismus kreuz und quer abzufragen, aber noch nie hatte sie eine Lücke bei ihm entdeckt. Nun klappte sie das Buch zu, zündete eine neue Zigarette an, atmete den Rauch tief ein.
»Wenn du einmal größer bist«, sagte sie freundlich, »wirst du begreifen,
warum... «
Von diesem Augenblick an hörte er nicht mehr zu. Jetzt kam der lange Abschlußvortrag, der keine Fragen mehr enthielt, also auch nicht die geringste Aufmerksamkeit erforderte: Die Großmutter sprach von Pflichten, von Geld, von der aromatischen Konfitüre, vom Großvater, von den Gedichten seines Vaters, las ihm Zeitungsausschnitte vor, die sie sorgsam auf rötliche Pappe hatte kleben lassen, in dunklen Formulierungen umkreiste sie das sechste Gebot.
Aber selbst Niggemeyer und Poske, die keine unmoralischen Mütter hatten,
genossen nicht die Schonung, die er genoß, und er wußte längst woher es kam: Auch ihre Väter waren gefallen, auch ihre Mütter vereinigten sich nicht mit anderen Männern — aber seines Vaters Name stand manchmal in der Zeitung, und seine Mutter hatte Geld. Diese beiden wichtigen Punkte fielen bei Niggemeyer und Poske weg: Ihre Väter standen nie in der Zeitung, und ihre Mütter hatten keins, hatten nur wenig Geld. Manchmal wünschte er, diese beiden Punkte würden auch für ihn wegfallen, denn er wollte diese übermäßige Schonung nicht genießen. Er sprach darüber mit niemandem, nicht einmal mit Brielach und Onkel Albert, und er bemühte sich tagelang, in der Schule schlecht zu sein, um den Lehrer zu veranlassen, ihn so wenig zu schonen, wie er Weber schonte, der dauernd Prügel bekam: Weber, dessen Vater nicht gefallen war Ȭ Weber, dessen Vater kein Geld hatte. Aber der Lehrer schonte ihn weiter. Er war alt, grauhaarig,
müde, hatte »einen Sohn im Krieg verloren«, und er blickte ihn so traurig an,
wenn er die Antwort nicht zu wissen vorgab, bis er, von Mitleid und Rührung überwältigt, doch richtig antwortete.
Während die Großmutter ihren Abschlußvortrag hielt, konnte Martin
beobachten, wie der Rauch sich immer dichter zusammenballte. Er mußte nur hin und wieder die Großmutter anblicken, um den Eindruck zu erwecken, er höre ihr zu Ȭ dann konnte er weiter an Dinge denken, die ihn angingen: das schreckliche Wort, das Brielachs Mutter zum Bäcker gesagt hatte, das Wort, das immer im Flur zu Brielachs Wohnung an der Wand stand Ȭ und an das Fußballspiel konnte er denken, das in drei, in vier Ȭ höchstens in fünf Minuten draußen beginnen würde auf dem Rasen vor dem Haus. Noch zwei Minuten, denn schon war die Großmutter bei der aromatischen Konfitüre, die irgendeinen Zusammenhang mit seinen Pflichten hatte. Glaubte sie wirklich, er würde die Marmeladenfabrik übernehmen? Nein, er würde sein ganzes Leben lang nur Fußball spielen, und es machte ihm Spaß und auch Angst, sich vorzustellen, daß er zwanzig Jahre, daß er dreißig Jahre lang Fußball spielen würde. Ȭ Noch eine Minute. Er horchte auf, als das helle, kurze Klingen ertönte, mit dem die Großmutter den Scheck aus ihrem Buch riß. Sie belohnte seine tadellosen Kenntnisse in Katechismus, sein aufmerksames Zuhören immer mit einem Scheck. Jetzt faltete sie ihn zusammen, und er nahm das zusammengefaltete bläuliche Stück Papier entgegen und wußte, daß er gehen durfte. Nur noch die Verbeugung, nur noch das »Danke, liebe Großmutter«, und er öffnete die Tür, und eine Wolke von Zigarettenqualm begleitete ihn in die Diele...